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Die „Weiße Göttin“

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© jo Lepies   
   
Ralph war afrikastämmig und zwanzig Jahre alt. Nach Tradition seiner Urheimat trug er das schwarze Haar zu Zöpfchen geflochten. Einmal wöchentlich moderierte er für junge Leute eine Musikveranstaltung in der Konzerthalle seiner Stadt.

Als Ralph nach einer solch abendlichen Sommerveranstaltung wieder einmal den Heimweg durch den einsamen Stadtpark wählte, sahen sie sich zum ersten Mal - das große, schlanke Mädchen und Ralph.

Nachdem die blonde Joggerin Ralph bemerkt hatte, lächelte und winkte sie ihm zu, zog dann aber schnell an ihm vorbei. Wegen ihres hellen Haares, des weißen Jogginganzuges und der freundlichen Art nannte Ralph sie jetzt die „Weiße Göttin“. Vielleicht joggt sie jeden Abend hier? Ob er sie wohl wiedersähe? Ralph konnte nicht wissen, dass dies bereits in wenigen Minuten geschehen sollte.

Denn plötzlich sah er sich in dem abendlichen Zwielicht fünf wüsten männlichen Gestalten in schwarzer Lederkleidung gegenüber. Sie mussten in den seitlichen Büschen und hinter den großen Bäumen auf ihn gewartet haben. Breitbeinig versperrten sie Ralph den Weg. Die Wurfsterne, Baseballschläger, Springmesser und Fahrradketten in ihren Händen jagten Ralphs Blutdruck rasch in die Höhe.

Ehe Ralph sich versah, machte er Bekanntschaft mit den handwerklichen Fertigkeiten seiner Gegenüber. Die Wurfsterne sausten knapp an Ralphs Kopf vorbei und blieben in dem dicken Baumstamm neben ihm stecken. Der Kerl mit den beiden Baseballschlägern jonglierte mit den Harthölzern, als gälte es einen Preis zu gewinnen. Sein Nachbar ließ die Klinge des Springmessers wieder und wieder aus dem Griff schießen, und der Fahradkettenmann seine Hiebwaffe mit hoher Geschwindigkeit um seine Hand kreisen.

Ralph wollte fliehen und wandte sich rückwärts. Doch auch dieser Weg war verstellt. Wie vor ihm standen auch hier fünf martialisch aussehende Kerle - die gleiche Ausgabe, dieselbe Aufstellung und Ausrüstung.

Plötzlich schwärmte die Truppe aus, und nahm Ralph auch die seitliche Fluchtmöglichkeit. Jetzt konnte er nur noch darauf hoffen, dass es tatsächlich Schutzengel gäbe und mindestens eines dieser Wesen ihm zu Hilfe käme.

Wer hier das Sagen hatte, blieb Ralph nicht lange verborgen. Es war Pocken-Freddy, der „Führer“ der Gruppe. Ein schwarzbärtiger, grobschlächtiger Rabauke. Andererseits aber auch ein Gebrauchsmuster hochwertiger Tätowierkunst. Freddys Gesicht zierten Pockenarben. Sie glichen erstarrter Lava.

Um sein schlimmes Aussehen zu steigern, hatte Freddy auf sein Gesicht lodernde Flammen tätowieren lassen. Dieser Anblick konnte einen Betrachter wahrhaft glauben lassen, er stünde einer Ausgeburt der Hölle gegenüber. Unterstützt wurde dieser Eindruck noch durch den tätowierten Kopf eines zähnefletschenden Kampfhundes auf Freddys haarloser Brust. Deshalb auch sein Beiname „Kampfhund“. Und um ja nichts auszulassen, hatte Pocken-Freddy auch an seine muskulösen Arme gedacht. Vom Schultergelenk bis zur Handwurzel zeigte der jeweilige Arm die Abbildung einer unbekleideten Frau. Welch liebliche Gestalt war da doch die „Weiße Göttin“.

Kaum hatte Ralph das Bild zu Ende gedacht, kam Freddy, der „Kampfhund“, auch schon zur Sache.
„Du bist nicht wie wir ...!“
Ralph schien auf so etwas gewartet zu haben.
„Aber - ich spreche doch eure Sprache!“
„Schon! Doch jemand der fremd aussieht ist nicht wie wir!“
„Das ist aber nur äußerlich“, wehrte sich Ralph weiter.
„Wie außen, so innen ...“, Pocken-Freddy gab nicht nach, „du bist nicht wie wir, sage ich dir!“
„Du magst mich nicht, gell ...?“, fragte Ralph immer noch mutig, „soll ich mich deshalb umbringen ...?“
Pocken-Freddys böse Augen richteten sich nun auf seinen Nachbarn und Stellvertreter, die „Glatze“, den zum Teufel Nummer zwei nur noch die Hörner fehlten.
„Hier ...“, sagte „Glatze“ zu Ralph und hielt ihm sein Springmesser entgegen, „stich dich ab!“ Seine Stimme klang wie das Meckern einer Ziege.

Ehe Ralph weitere Deeskalationsstrategien entwickeln konnte, kam alles anders. Ein blondes Mädchen rammte zwei der Mobber zur Seite, betrat mit schnellen Schritten das Innere des Kessels und stellte sich demonstrativ neben Ralph. Groß war die junge Frau, schlank und blond und - sie trug einen weißen Jogginganzug. Sie war Ralph nicht fremd. Es war die „Weiße Göttin“, die erst vor kurzem an ihm vorbeigejoggt war.

Als erstes sorgte Ralphs Partnerin mal für eine zivilisierte Ordnung unter den schlimm aussehenden Figuren. Denn „Glatzes“ gefährliches Springmesser zeigte jetzt auch auf sie. Ein Schritt auf „Glatze“ zu, blitzschnell und kräftig zugeschlagen und schon sprang die Stichwaffe aus seiner Hand und landete in der angrenzenden Wiese. So etwas hatte Freddys Park-Gang noch nicht erlebt. Da wurde doch glatt einer der ihren von einer Frau vorgeführt. Nachdem „Glatze“ jetzt in der Gruppe erheblich an Ansehen verloren hatte, entschied sich Pocken-Freddy ebenfalls für eine Deeskalationsstrategie. Vorsorglich - ehe noch andere seiner Terrorgruppe oder möglicherweise sogar er, der „Weißen Göttin“ Tribut zahlen müssen. Denn - Frauen wurden von ihnen noch nicht angegriffen.
„Wir warten ...!“, sagte Pocken-Freddy zu Ralph.
„Worauf ...?“, fragte dieser.
„... das du endlich verschwindest! Das ist unser Park“.

Die Stänkerer-Gruppe wusste genau, dass Ralph und sein Mädchen den Kessel nicht so ohne weiteres verlassen konnten, ohne, dass es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre. Auf ein herrisches Handzeichen Pocken-Freddys öffnete sich der geschlossene Ring. Ehe jedoch die beiden ihr „Gefängnis“ verließen, legte die „Weiße Göttin“ ihre schlanke Arme um Ralphs Hals, sah ihm in die schönen Augen und küsste ihn lange und zärtlich. Nun wandte sich das Mädchen noch einmal an Pocken-Freddy und seine so genannten Parkwächter.
„Ich habe Ralph angesehen und ihn geküsst. Er ist wie ihr - ein Mensch.“ Dann hakte sie sich bei Ralph unter und schritt mit ihm in eine gemeinsame Zukunft.

© 2006 joLepies
 

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