... für Leser und Schreiber.  

Alt

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©  ThiloS   
   
Die Tasse mit frischem Kaffee fiel laut klirrend auf den Boden, nicht ohne im Fall ihr Bein noch zu verbrühen. Die Scherben spritzen in alle Himmelsrichtungen, fast wie eine kleine Tassengranate und der Kaffee bildete eine Pfütze aus schwarzem Samt auf den Fliesen.

Sie stützte sich mit der rechten Hand an der Arbeitsplatte der Küche ab und wischte sich mit der anderen die Stirn. Sowas aber auch. So ein SCHIET.
Sie sah an sich herunter. Kaffee tropfte von ihrem Rock, von ihrem linken Knie und überhaupt war die weiße Farbe der Kücheneinrichtung mit Kaffeeflecken gesprenkelt, als hätte sie soeben ein Kaffeetier getötet und ausgeweidet. Sie starrte auf die Scherben.

Sicher, sie hatte schon mehr als eine volle Kaffeetasse fallen lassen, eine ganze Menge Kaffeetassen, das war normal, wenn man 68 Jahre alt war und schon ein paar Sonnenaufgänge gesehen und ungefähr 2 Hektar Kaffeeplantage leergetrunken hatte.

Nur: diesmal war es anders. GANZ anders. Öfter mal was Neues, wie ihr toter Mann gesagt hätte. Diesmal war sie nicht ungeschickt gewesen. Diesmal war sie einfach zu schwach gewesen, die volle Tasse zu halten und den einen Meter zum Tisch zu balancieren. Das war es, was sie schockierte. Zu schwach für einen verdammten Pott Kaffee.

Wurde sie alt? Sie korrigierte sich sofort: „ich BIN alt“. Bisher war ihr das egal gewesen. Ab dem 50sten Lebensjahr laufen die Geburtstage sowieso immer gleich ab: man lädt einen Haufen Leute ein, vorzugsweise die Familie, später das, was davon übrig ist, dann Leute, die sich selbst als Freunde betrachten, man bekommt einen Haufen sinnloser, unnützer Geschenke und ein goldenes Pappschild, auf dem in Lorbeerblättern die Jahreszahl steht und ist kein „Geburtstagskind“ mehr, sondern ein „Jubilar“, juhuu, wie schön. Die Jahre fliegen zäh dahin und plötzlich steht „68“ auf der Geburtstagstorte und man fühlt sich wie 67. Oder 58. Oder 50. Weil es irgendwie keinen Unterschied mehr macht, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Mann schon lange tot ist. Weil es keinen Unterschied macht in der Rente, bei der Wäsche, bei der Rechnung der Telekom, 67, 68, 69, es ist völlig egal.

„Man ist so jung, wie man sich fühlt“ sagt der Volksmund. Der sagt aber auch Sachen wie „Morgenstund hat Gold im Mund“ oder „immer, wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ „Der Volksmund ist ein dämlicher Schwätzer“ dachte sie sich. Wie fühlt man sich denn mit 25, wenn man regelmäßigen Sex und eine funktionierende Verdauung hat? Wie fühlt man sich mit 35, wenn die Kids mit mauen Noten heimkommen und das blonde Haar auf dem Jacket des Gatten etwas anders aussieht als die eigenen blonden Haare? Wie fühlt man sich mit 45, wenn das Hausdarlehen umgeschuldet wird und die Tochter plötzlich mehr Sex als man selbst hat? Wie fühlt sich 55 an, wenn die Anzahl der ausfallenden Haare sich indirekt proportional zu den Friseurrechnungen verhält?

Nein, zwischen „sich jung fühlen“ und „jung sein“ gab es da doch einige kleine gewaltige Unterschiede. Sagen wir es so: kein Mensch kann sich wie 68 fühlen, aber er kann fühlen, dass und wenn er ALT ist. Wenn die Zukunft kürzer als die Vergangenheit ist und wenn Erinnerungen an vor 20 Jahren präsenter als der morgige Terminplan sind. Dann ist man wohl ALT. Man ist wohl ALT, wenn man einen Computer nicht mehr richtig versteht, sich von seinen Enkeln diese verdammten, ständig entladenen und vergessenen Handys erklären lassen muss und man zu dicke Finger hat, um dieses Spielzeug zu bedienen, man ist ALT, wenn die Anzahl der Fotoalben mit blau- und gelbstichigen Fotos ein ganzes Regal einnehmen, wenn man lieber Schallplatten als CD hört, nicht so ganz genau weiß, wie der DVD-Player funktioniert und nicht begreift, wie die Verkabelung zwischen DVD, Videorecorder (VHS), Receiver, Playstation (für die Enkelplagen) und sonstigem Schnickschnack, den nur Leute brauchen, die zu faul zum Reden sind – oder niemanden zum Reden haben – funktioniert und für teuer Geld irgendeinen Heiopeih anheuern muss, der gleich drei Mal kommt, weil nichts funktioniert und dann vorwurfsvoll „da haben Sie was umgesteckt, gell?“ sagt.

Die fast unsichtbaren Rauchwölkchen der Kaffeepfütze wurden dünner. Sie wusste, was sie eigentlich zu tun hatte: sich einen Putzlappen greifen, dann hinknien und das leise Knacken der Knie überhören, denn Kaffe aufwischen, den Lappen auswringen, eine Kehrschaufel holen, die Scherben zusammenkehren, den Mülleimer öffnen, die Kehrschaufel hineinleeren, die Kehrschaufel wegräumen und wenn sie DANN noch Lust hätte, sich einen neuen Kaffee machen.

Oder sie könnte auch einfach sterben.

Jetzt gleich und hier auf der Stelle. Dann wäre die letzte Tätigkeit, die sie je in ihren 68 Jahren, 74 Tagen, 8 Stunden und 32 Minuten ausgeübt hätte, der missratene Versuch eines sensationellen Balanceaktes – kommen Sie her, meine Damen und Herren, hier sehen Sie die wunderbare Ingeborg, das alte Schrapnell, wie sie eine Tasse mit heißem Kaffee von der Anrichte bis zum Küchentisch balanciert, ohne Netz und doppelten Boden, nur heute, nur hier – gewesen.

Ja warum eigentlich nicht? Einen Kaffee zu verschütten und dann zu sterben war genauso sinnvoll oder sinnlos, wie sich abends die Zähne zu putzen und morgens eine Leiche mit frischem Nichtatem zu sein.

„Sie wollte sich noch einen Kaffee machen“ würden ihre Kinder sagen, wenn sie sie, vielleicht schon etwas angegammelt, finden würden. Sei es drum. So einfach starb es sich nicht. Das ganze Leben war nichts anderes als ein kleines stilles Sterben. Jeden Tag so ein ganz klein wenig.

Irgendwann hatte sie mit ihren Puppen gespielt und nicht gewusst, dass es das letzte Mal war.

Irgendwann hatte Sie dem Jüngsten die Windeln gewechselt und den Hintern gepudert und nicht gewusst, dass es das letzte Mal war.

Irgendwann hatte Sie einen Brief auf der Schreibmaschine (mit Durchschlagpapier!) geschrieben und nicht gewusst, dass es das letzte Mal war.

Irgendwann hatte Sie Sex mit ihrem geliebten Mann gehabt und nicht gewusst, dass es das letzte Mal war.

Nein, das ganze Leben bestand aus einer unendlichen Abfolge von „letzten Malen“, einem stetigen Abschiednehmen, das im Großen und Ganzen an einem vorbeirauschte. Das letzte Buch, der letzte Kinobesuch, das letzte Abonnement, die letzte Bahnfahrt, der letzte Vorhang, der allerletzte, vielen Dank für Ihre Unaufmerksamkeit, wir hoffen, Sie haben den Spaß, den Sie hatten, nicht bemerkt, wir sehen uns garantiert nicht wieder, weil dieses Haus morgen für immer schließt. Und tschüss.

Von daher war es also egal, ob sie beim Kaffeekochen oder beim Blumengießen oder während einer dieser unendlich blöden „finden Sie Tiere mit einem Q in der Mitte“-Shows abtrat, „hinüberging“, wie Esoteriker gerne so dämlich formulieren.

Über den Tod hatte sie sicher schon oft nachgedacht, geforscht, gelesen, beiseite geschoben, doch wieder gelesen, diskutiert, eruiert, gebetet, sicher auch heute intensiver als früher, als alles noch im Lot, also senkrecht war, aber sicher war immer nur eine Sache: er würde auch bei ihr keine Ausnahme machen. Wenn er nicht einmal bei Jesus eine Ausnahme gemacht hatte, dann würde er sich erst recht auch bei ihr an die Spielregeln halten.

Sie hoffte nur, dass es, wenn es in 5 Minuten oder in 5 Jahren oder am 101sten Geburtstag passieren würde, schnell gehen würde. Kein langes Siechtum, kein jahrelanges „ins Bett kacken“, kein endlos ewiges, halb schwachsinniges die-Decke-vom-Pflegeheim-anstarren in Zimmern, die nach falschem Rosenduft und vollen Urinbeuteln rochen und in die die immer seltener kommenden Besucher sich ekeln würden einzutreten.

Ihr Vorteil, jetzt und in diesem Moment, war, dass sie das selbst entscheiden konnte. Noch selbst entscheiden konnte, weil sie bei klarem Verstand war.

Sie hob die größte Scherbe der Tasse auf und wog sie prüfend in der Hand. Dann glitt ihr Blick, ohne dass Sie das bewusst gesteuert hätte, zum Messerblock.

War dieses alte Leben denn noch wert, dass man es lebte? Gab es noch irgendetwas, das sie dringend vermissen würde? Was sie verpasst hatte? Etwas, von dem die Schwätzer sagen würden, „wenn Du nicht blablabla, dann hast Du nicht gelebt“?

Wofür, für wen, für was sollte sie noch am Leben bleiben? Wer brauchte eine alte Frau? Brächte sie wohl bei ebay das eine Euro Mindestgebot? Länger leben, um die Enkel noch ein paar Jahre zu sehen? Oder mit anderen alten Schrapnellen Kochrezepte zu tauschen, für Gerichte, die sie nie kochen würde, weil keiner mehr da war, der sie essen würde? Wozu?

Wenn man doch sein Leben gelebt hat und es gerne gelebt hat und weiß Gott, das hatte sie!

Wozu also?

Wozu?
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 11:42:17