... für Leser und Schreiber.  

Ein leeres Blatt Papier

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© Sandra Junghans   
   
Adam war ein pensionierter französischer Schriftsteller, der seinen Lebensabend in einem Vorort von Dunedin auf Neuseeland verbringt wollte. Endlich hatte er nach all den Romanen, meist Krimis, und den Berichten, die er für die juristische Fakultät geschrieben hatte, Zeit private Dinge zu verfassen. Ein Familienbuch samt Stammbaum wollte er schreiben. Über Kinder und Enkelkinder, aber vor allem über sich selbst und sein Leben.

Er setzt sich an seinen Schreibtisch und betrachtet das verschiedene Material. Papierstapel, seine Notizen, die er gestern Abend sortiert hatte. Fotos, Zeitungsausschnitte, Urkunden, Zettel und sogar Tagebücher seiner verstorbenen Ehefrau Emelie.
Nachdem Adam stillschweigend einige Augenblicke nur auf dieses Tagebuch starrte, öffnete er es vorsichtig. Die Handschrift der Verstorbenen war sauber und ordentlich. Im Laufe der Jahre war die Tinte etwas verblasst, dennoch waren die meisten Seiten noch gut leserlich. Adam las und schwelgte in Erinnerungen. Seufzend sah er dann aus seinem Fenster und beobachtete Clear, die im Vorgarten Wäsche auf hing. Sie war seit zwei Jahren seine Geliebte, obwohl sie kaum älter, als seine jüngste Tochter war. Wehmütig sah er wieder das Tagebuch an. 1953 in Paris. Eine kurze Notiz von Emelie über einen eleganten jungen Mann den sie kennen gelernt hatte. „Ein Herr, der sich Notizen über ein Pariser Frühstück machte“ so hieß es. Adam schmunzelte.
Nach einigen Stunden legte er das Tagebuch bei Seite und zog die Schreibmaschine, auf der er seine größten Erfolge geschrieben hatte, an sich heran. Die meisten Buchstaben waren abgegriffen und die Tastaturen „E“ und „K“ zogen ein unsauberes Schriftbild, doch Adam hatte nie darüber nachgedacht, sie gegen eine neue Schreibmaschine, oder gar einen Computer auszutauschen. Er positionierte seine Finger auf der Tastatur und überlegte. Er dachte an Emelie. Mit ihr wollte er sein Buch beginnen. Nicht mit sich selbst, wer seine Eltern waren oder wo er aufwuchs, sondern mit ihr, seiner ersten und einzigen großen Liebe wollte er beginnen. „Emelie“ schrieb er schnell und die Buchstaben donnerten auf das Papier. Er stockte. Was nun? „Emelie“… was sollte er weiter schreiben? „Emelie… war meine Frau“. Er stockte erneut, las den Text, zog das Papier dann missmutig aus der Halterung und zerknüllte es. Dann spannte er ein neues Blatt ein. Minuten vergingen schweigsam bis er zu schreiben begann. Nach wenigen Sätzen zog er auch dieses Papier aus der Schreibmaschine und warf es zerknüllt hinter sich. Den ganzen Nachmittag ging das so, bis sich hinter ihm ein Berg an zerknüllten Papierseiten angesammelt hatte.

Clear kam aus dem Haus und nahm die Wäsche von der Leine. Adam beobachtete sie wieder dabei. Dann schüttelte er mit dem Kopf und seufzte. Nein, so war er sich sicher, über Emelie würde er hier auf Neuseeland kein einziges Wort verlieren können, das auch nur annähernd würdig war.
Adam schwieg.
Draußen ging die Sonne unter. Das Tagebuch lag auf seinem Schoß, die Schreibmaschine stand vor ihm. Keinen einzigen Satz hatte er auf das Papier gebracht. Plötzlich rief eine junge Frauenstimme: „Komm Schatz, das war genug für heute.“
 

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