... für Leser und Schreiber.  

Zu spät

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©  Middel   
   
Ich habe ihr nie das Lächeln geschenkt, das sie verdient hatte. Und doch hat sie mich zum Strahlen gebracht, innerlich. Ich konnte ihr nie zeigen, wie viel es mir bedeutet, dass sie einfach nur da ist und mich so akzeptiert wie ich bin. Alle meine Fehler zusammengerechnet ergeben eine Summe jenseits dessen, was ich selbst bereit wäre bei Anderen zu billigen. Einzig meine Liebe zu ihr war wohl in der Lage, dies, zumindest zeitweise, aufzuwiegen.
Wenn es regnet, denke ich noch oft an sie. Sie liebte den Regen und wenn es (vor allem im Sommer) irgendwann anfing zu regnen, sagte sie: „Komm, lass uns in den Park gehen.“
Ohne Schirm, ohne Jacke und ohne die Angst, nass zu werden. Ich sehe noch ihr Lächeln vor mir, ihr nasses Gesicht, so strahlend schön, dass ich vor Sehnsucht fast vergehe. Wir rannten durch den Park und sie schrie ihre Freude in den Himmel, so, dass ich sicher war, dass der Himmel mit ihr vor Freude weinte. Und wenn sie mich ganz nah an sich zog und ihre Lippen mein Gesicht berührten, wenn ich sie fühlte, roch und schmeckte, hätte ich ihr am Liebsten auf der Stelle alle Liebesschwüre der Welt ins Ohr geflüstert. Doch meine Lippen blieben stumm.
Als sie dann krank wurde, habe ich ihre Hand gehalten, stundenlang – tagelang – wochenlang. Nie wieder wollte ich sie loslassen. Doch die Zeit nahm ihre Kraft und als ich meine Liebe zu ihr das erste Mal in Worte fassen konnte, war sie schon tot. Ich kann nur hoffen, dass sie tiefer in mich schauen konnte, als ich selbst, um zu entdecken, was ich erst viel zu spät erkannte:

LISA, ICH LIEBE DICH!
 

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