... für Leser und Schreiber.  

Laurinas Traum

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©  gedanke.in.ketten   
   
(Die folgende Geschichte bezieht sich thematisch auf den “Alice” - Zyklus der Band “StillsteStund”. Es ist möglich, das der Leser gewisse Vorkenntnisse haben muss, um den Sinn der Geschichte vollkommen zu erfassen. Ich bin jedoch der Meinung, das die Story auch für sich Selbst stehen kann.)

Weißt du, was es heißt, am Leben zu sein?
Kannst du mir denn sagen, wie es ist, ein Teil dieser Welt zu sein?
Was ist Liebe?
Was der Tod?
Was Phantasie und was Realität?
Ich kann Beides nicht mehr trennen, nicht voneinander unterscheiden.
Warum kann ich die Kälte des Schnees nicht spüren?
Und warum zeigt mir das Licht des Mondes nicht den Weg?
So laufe ich blindlings durch den dichten Wald, so dunkel, wie es nur meine Seele ist. Zweige peitschen beharrlich meinen nackten Körper, doch empfinde ich keinen Schmerz.
Kann nichts spüren.
Ich sehe kahle Äste, sehe Schnee. Doch sind es nicht meine Augen, die all das blicken. Es sind nicht meine Gedanken, welche die Nacht erkennen.
Füße tragen mich durch den Schnee. Laufen und laufen, so unendlich lange schon. Doch kann ich keine Erschöpfung verspüren.
Und schließlich stehe ich vor dem Spiegel, der eigentlich schon längst zerbrochen ist. Sein Rahmen, so schön und grausig abstoßend zugleich, umfasst mit filigranen Holzklauen, das nun wieder intakte Glas.
Ich blicke mit Augen hinein, Augen die nicht die Meinen sind.
Zuerst erkenne ich nur einen Schleier aus Nebel…
… der jedoch bald verschwindet und mir ein Bild zeigt, das so erschreckend fremd ist. Und doch erkenne ich es…
Im Spiegel sehe ich mich.
Und doch sind es nicht meine Augen, welche mich anklagend betrachten.
Ich sehe meinen nackten Mädchenleib, so grausam entstellt. Erkenne ich doch ein blutiges Loch in meiner Brust, dort wo einst mein Herz gewesen ist.
Es fehlt.
Es ist nur schwarze Leere, die in mir schlägt, mich in diesem Traumleben hält.
Ich berühre den Spiegel. Mein Gegenüber tut es mir gleich.
Und dann berühre ich mich selbst.
Und dann berührt mich das Mädchen im Spiegel.
Ich kann ein Kribbeln im Finger spüren, so wie tausend stechende Nadeln.
Ich spüre heiße Tränen auf meinen Wangen.
Im selben Augenblick rinnt Blut aus den Augen des Spiegelmädchens und sie öffnet den Mund und spricht zu mir. (Un)schuldige Lippen formen Worte.
“Gib es mir zurück, mein Leben.”
Auch meine Lippen bewegen sich synchron zu ihren, doch bleibe ich, oder vielmehr der Körper indem ich wohne, stumm.
“Gib mir mein Herz, was du mir so grausam entrissen hast.”
Das Spiegelmädchen spricht zu mir mit meiner Stimme, mit meinem Körper.
Und der Körper außerhalb des Spiegels steht stumm da und nickt. Es ist der fremde Schwesterkörper, welcher mich seit unbestimmter Zeit gefangen hält.
Und plötzlich kann ich Schmerzen spüren, kann die Kälte des Schnees fühlen und der helle Mond erleuchtet den mitternachtsschwarzen Wald.
Ich spüre, wie mein Körper und mein Geist die Traum(a)welt verlassen und mich hinüber in die Nächste zieht.
Ich erwachte…

Als das Mädchen schweißgebadet erwacht, liegt sie mit Tränen in den Augen in ihrem Bett. Erschrocken schaut sie aus dem Fenster, in welches der helle Vollmond scheint und ihr Gesicht erhellt. Sie kneift verschlafen die Augen zusammen und steht schwankend und mit zitterigen Beinen auf.
Panisch sieht sie an sich herab, inspiziert ihren Körper. Ihr schlanker Leib ist über und über mit kleinen Schnittwunden bedeckt… wie von Spiegelscherben.
Die kleine Spieluhr auf ihrem Nachttisch, beginnt wie von Geisterhand zu erklingen, als sich eine Wolke vor das Angesicht des Mondes schiebt.
Dann passiert etwas in ihrem Kopf. Sie fühlt sich schwindelig…
kämpft mit der Ohnmacht. Sterne tanzen für wenige Augenblick vor ihren Augen und das Lied der Spieluhr verkommt zu einem eigenartigen Singsang.
Als das Mädchen sich wieder fängst, spürt sie, das etwas nicht stimmt. Sie hat ihren Namen vergessen.
Doch nein, nicht vergessen…
…sie erinnert sich wieder.
Ihr Name ist…
Ist… Alice.
Und aus den harmonischen Klängen der Spieluhr, kann sie die schreiende, hilflose Stimme ihrer Schwester hören:
“Gib mit zurück, was du mir gestohlen. Gib es zurück, sonst komm ich es holen.”

Und irgendwo tief im dunklen Winterwald, wartet Laurina weinend in der Spiegelwelt auf ihre Schwester.
Wartet zitternd in der Dunkelheit auf Rettung.
Und ein schwarzes Loch in ihrer Brust erzählt pulsierend von Schmerz und Mord. Erzählt brennend und stechend von zwei Schwestern, für die nur ein Harz im Mutterleib vorhanden war.
“Weißt du, was es heißt, am Leben zu sein?
Kannst du mir denn sagen, wie es ist, ein Teil dieses Welt zu sein?”, flüstert sie schluchzend und sinkt kraftlos auf die Knie.
 

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