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Scheinwelt

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Scheinwelt

Hektisch schloss ich die Tür unseres Hauses auf und rannte die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Meine Tasche warf ich achtlos in die Ecke. Schnell fuhr ich meinen Rechner hoch und konnte es gar nicht abwarten, bis er endlich soweit war.
Ich durfte keine Zeit verlieren, in zwei Stunden kam meine Mutter nach Hause. Und dann konnte ich den PC erst einmal vergessen. Aber bis dahin wollte ich jede freie Minute mit ihm verbringen. Er war so etwas wie ein Seelenverwandter für mich. Meine zweite Hälfte, das fehlende Puzzelteill. Ohne ihn fühlte ich mich nicht vollkommen. Mein „BadBoy_123“

Dieser Name passt nicht zu ihm, finde ich. Er ist absolut kein Bad Boy. Er ist der verständnisvollste, einfühlsamste, witzigste Junge den ich kenne. Ich bin ihm noch nie begegnet, aber ich fühle mich auf eine unerklärliche Weise mit ihm verbunden. Ich kenne seine Hobbies, seinen Musikgeschmack, kenne seine Lieblingsfußballmannschaft, weiß, welche Eissorte er am Liebsten hat und – für mich das Wichtigste – ich weiß was in ihm vorgeht. Ich weiß meistens schon vorher was er mir sagen will, auch wenn er die richtigen Worte noch nicht gefunden hat.
Er fasziniert mich mit seiner speziellen Art. Er ist so anders als die Jungs aus meiner Schule. Er beurteilt mich nicht nach meinem Aussehen, denn er weiß ja nicht wie ich aussehe. Er weiß nur, wie ich wirklich bin. Was ich denke und fühle. Keine Vorurteile.
Manchmal wünsche ich mir, er wäre hier bei mir und ich könnte mit ihm zusammen etwas unternehmen. Zum Beispiel würden wir zusammen ins Kino gehen – er ist leidenschaftlicher Kinogänger – oder wir würden einfach nur dasitzen und er liest mir aus einem seiner Lieblingsbücher vor. Dann stelle ich mir immer seine Stimme vor, wie sie wohl ist, welchen Klang sie hat. Ich überlege mir, wie er wohl aussieht. In meiner Vorstellung ist er perfekt.
Ich stelle mir vor wie wir auf einer Wiese sitzen, ich liege auf dem Rücken und habe die Augen geschlossen während er mit seiner wundervollen Stimme seine Lieblingsstellen eines Buches vorliest und mir sanft durch die Haare streichelt.
Stundenlang konnte ich mich so meinen Gedanken hingeben wenn wir nicht chatteten. In meinem Kopf entstanden wahre Filmszenarien mit uns beiden als Hauptdarsteller.

Endlich war mein Rechner soweit. Schnell schloss ich die zahlreichen Werbefenster und loggte mich ein. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her während sich die Verbindung aufbaut. War er schon da? Wartete er schon auf mich? Ich hatte mich beeilt nach Hause zu kommen um ihn nicht zu verpassen. Meine Ungeduld wurde schier unerträglich.
Dann die Erleichterung, er ist da.

„Hallo Ozeangirl!“
„Hallo BadBoy_123!“

Die Realität um mich herum beginnt zu verschwimmen und ich kann mich ganz meiner Traumwelt hingeben…
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 01:23:35