... für Leser und Schreiber.  

Apoplex

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©  kalliope-ues   
   
Manchmal geht das Leben seltsame Wege, steinig und karst. Manchmal hinterlässt es mich in tiefer Verzweiflung.

Ich hatte letzten November einen Schlaganfall, der zwar keine äußerlich sichtbaren Spuren hinterlassen hat, wie das oft bei anderen Menschen der Fall ist. Aber mein gesamtes Denken, Fühlen und Handeln muss sich nun mit Einbußen und Beeinträchtigungen erleben und mich damit zurechtfinden.

Ich muss wieder ganz neu lernen, wer und wie ich bin. Es ist, als ob mich jemand genommen und ganz und gar durchgeschüttelt hätte. Ich bin dabei, mich neu zu finden, neu zu sortieren, neu kennenzulernen - und manchmal brauche ich dazu sehr viele Tränen. Ich war immer ein extrovertierter Mensch - zwar stets von Rückzugsphasen durchwachsen, mein Elfenbeinturm war mein Schloss (auch wenn's nur in einer Mietwohnung war) - nun muss ich damit umgehen lernen, dass viele Menschen bei mir Stress auslösen - dann sehe ich alles wie durch einen Nebel, höre dumpf als wäre ich unter einer Haube, kann nicht mehr schnell denken und adäquat reagieren, kann das Gesprochene nicht aus den Hintergrundgeräuschen herausfiltern ... Schlimm ist, dass "viele Menschen" in diesem Sinne bereits vier oder fünf sein können. Einkaufen wird also schwierig, selbst dann, wenn ich es in Begleitung mache. Mal in ein Kaffee sitzen und lauschen - wann ich das wieder wage?

Früher war ich eine Leseratte, meist habe ich mehrere Bücher parallel gelesen, je nachdem wonach mir der Sinn stand - nun bin ich froh, wenn ich an einem einzigen Buch "dranbleiben" kann - in kleinen Häppchen, anfangs nur eine halbe Seite, dann zwei bis drei, inzwischen mitunter sogar schon bis zu dreißig Seiten (aber das sind dann besondere Highlights!).

Früher konnte ich einen Stapel an Informationen querlesen und dennoch den Inhalt erfassen und so wiedergeben, dass andere verstehen konnten, worum es geht - nun muss ich wie jeder andere Durchschnittsbürger Wort für Wort, Zeile für Zeile, Absatz für Absatz lesen, oft sogar mehrmals, um allmählich den Inhalt zu erfassen. Schon wenn ich diesen dann versuche, mit eigenen Worten meinem Partner wiederzugeben, beginne ich manchmal zu stottern weil die richtigen Worte nicht daherkommen oder falsche sich einschleichen, manchmal sogar ganz unbemerkt. Mein Gefährte ist der geduldigste Mensch, den ich kenne - inzwischen kommt es dennoch vor, dass er mir ins Wort fällt und einen begonnen Satz vollendet, wenn ich mittendrin den Faden verloren habe. Ich weiß, dass er mich damit niemals verletzen will - nur helfen, um den Faden wieder aufgreifen zu können.

Früher konnten mich bei einem Vortrag mitten im Satz mehrere Menschen mit Rückfragen unterbrechen, ich konnte antworten und trotzdem danach den von mir begonnenen Satz zu Ende sagen - meistens jedenfalls. Jetzt reicht schon ein Vogel, der sich aufs Fensterbrett setzt oder ein Wassertropfen der das Dachfenster überrollt oder ein Flugzeug am Himmel oder ein lautes Geräusch im Nachbargarten oder ein intensiver Blickkontakt, um den Faden so sehr zu verlieren, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, worüber wir gerade gesprochen haben. Und dann reicht manchmal ein Stichwort um den Faden wieder zu finden, manchmal aber auch nicht.

Früher habe ich geschrieben, über alles und jedes, habe Gedichte geschrieben (und auch veröffentlicht), es war mein Lebenselixier - seit dem Schlaganfall habe ich selbst nur sehr wenig zu Papier gebracht. Es fällt mir unglaublich schwer. Auch dies hier zu schreiben fällt mir unglaublich schwer.

In solchen Phasen igle ich mich dann ein und verstumme, wie es halt für eine Skorpionin nicht ganz untypisch ist ... Zum Glück habe ich einen Partner, der mir seelenverwandt ist.

Ich danke Dir für Deine Nachricht, lieber Leser, für den Kommentar, die Bewertung. Ich kann nur hoffen Du verstehst, dass ich manchmal nicht gleich antworten kann.
 

http://www.webstories.cc 27.04.2024 - 04:07:19