... für Leser und Schreiber.  

Tic Tac

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©  Clarenbach   
   
Oft sind es die kleinen Dinge, denen man zu wenig Wertschätzung schenkt.
Tac war ein Polizist auf Streife – noch am Leben – in einer weiteren feuchten Nacht in seiner Großstadt und erhält soeben einen Funkspruch: Ärger ganz in seiner Nähe. Dabei hatte seine Schicht gerade erst begonnen. Die Stadt bot nachts ein atemberaubendes Lichterspiel; Ampeln schalteten hier und da scheinbar willkürlich von Rot auf Grün. Anderswo sah er verschiedene Werbereklame (Kaufe mich und ich mache dich glücklich!), die er jetzt jedoch nicht beachtete um sich eine Zigarette anzünden zu können. Tac nahm einen tiefen Zug, ließ Rauchkreisel emporsteigen bevor er den Motor startete, Blaulicht und Martinshorn einschaltete und die nächste rote Ampel überfuhr.
Gedankenversunken unter einem sternenblinden Nachthimmel erinnerte er sich an seinen Streit mit Mary, welcher wieder einmal von seinem übermäßigen Alkoholkonsum zum Thema hatte. Aber wollte das Weib ihn überhaupt verstehen? Erst gestern hatte diese Schlampe versucht ihm seines Schnapses zu entledigen bis er sie eines Besseren belehrt hatte. Beiße nicht die Hand, die dich füttert, Baby!
Jetzt musste er links abbiegen und nur noch wenige hundert Meter zum Tatort: einem berüchtigten Nachtclub. Sex. Drugs. And Rock’n’Roll. Neben den üblichen Gesetzeswidrigkeiten wie körperliche Gewalt sollte es diesmal härter zugegangen sein. Bis auf das leise Motorengeräusch war es still, doch Tac kam es plötzlich so vor als würde jemand seinen Schädel mit einem Presslufthammer bearbeiten. Das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen, rieb er sich ächzend die Schläfe und zwang sich diese Schmerzen auszublenden.
Fast am Ziel angelangt sah er eine aus dem Schatten heraustretende Person, die ihn heranwinkte. Vermutlich ist das der, der uns gerufen hat, dachte Tac, also fuhr er rechts ran und stieg nun mit abklingenden Kopfschmerzen aus, während - wie er nun erkannte – der Mann um das Auto hastete.
„Guten Abend, Herr… Ich… Ich“, sagte dieser. Dabei blickte er panisch um sich – links, rechts, links und wieder rechts – als müsste er sich vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war. Tac zog eine Augenbraue hoch und machte sich von diesem seltsamen Verhalten geistig eine Notiz.
„Nennen sie mich einfach Tac. Und jetzt beruhigen S….“
Die ungewöhnliche Augenfarbe, nein Augenfarben des Mannes angaffend, vergaß er was er sagen wollte. Verdammt er hat neben einem blauen ein rosarotes Auge!
„Mick…ich bin Mick“, sagte der Mann und starrte – wie ein Kerl der sich eingeschissen hatte – mit hängenden Schultern zu Boden. Er zitterte am ganzen Körper, seine Lippen bebten, das Gesicht bleich, reckte sein Kinn empor und wandte sich mit zusammengekniffenen Augen an Tac:
„Mick empfiehlt dem Herren nach Hause zu fahren. Mick sah schlimme Dinge…tic, tac…“
Das beunruhigende rosarote Auge fing Tac ein wie auch Fliegen in der Nacht unmöglich einer lichtspendenden Quelle zu entkommen vermochten, auch wenn diese sie töten würde. Aber Micks Augenlicht versagte und er schlug auf dem harten, nassen Asphalt auf. Sekunden später kam auch Streifenpolizist Tac wieder zu Bewusstsein und sah einen reglosen Körper vor sich. Er beugte sich zum ohnmächtigen Mick hinunter, drehte ihn auf den Rücken. Eine Platzwunde an der Stirn und eine zerschmetterte blutende Nase, doch der Mann atmete. Das reichte Tac und er versuchte ihn wachzurütteln aber seine fruchtlosen Bemühungen brachten ihm nur widerspenstiges Grunzen ein. Wenn ich etwas nicht mag, dann sind es Widerworte oder solche Neunmalklugen wie dich, du Pisser, dachte er und holte aus um Mick mit der Ohrfeige seines jämmerlichen Lebens aus dem Land der Träume zu reißen.
Tac sah einen bis vor wenigen Sekunden bewegungslosen Mick mit einer Schnelligkeit, der er mit seinen Augen nicht mehr folgen konnte, nach ihm greifen, dass es ihm den Atem verschlug. Micks Hände quetschten Tacs Schläfen einem Schraubstock gleich. Ungeahnte Schmerzen explodierten in seinem Kopf, er wollte schreien – ja, kreischen wie ein kleines Mädchen, dessen Lieblingsspielzeug man entwendet hatte – doch seine Stimme versagte ihm jeden Dienst. Er sah sich in diese strahlend–rosaroten Augen, denn nun glühten beide in diesem Ton, starren und pinkelte sich ein. Tac verlor sich in dem Licht, fühlte sich wie ein Mafiaopfer mit Zementstiefeln, die es unablässig in die Tiefe zerrten, während der Todgeweihte verzweifelt nach Atem ringt, einen letzten Strohhalm suchend, der vorm Ertrinken bewahrte. Polizist Tac fand keinen solchen.
Er kämpfte, schlug um sich und hielt inne als seine Hand kühlen vertrauten Stahl streifte. Für ihn endlos erscheinende Augenblicke brauchte es seine Pistole aus dem Holster zu ziehen, auf Mick zu richten, die Sicherung zu lösen und…
„Nein…“, dröhnte eine Stimme in seinem Kopf – in seinem verdammten Kopf! – und eine neue Welle paralysierender Schmerzen durchfuhren seinen Körper:
„Nicht ich. Du.“
Hände, die eine heiße Kaffeetasse sonst ruhig hielten, zitterten nun und zielten mit der Waffe auf eines seiner Augen. Tac schaffte es nicht einen Tränenfluss zu unterdrücken, während er weiterhin gezwungen war in diese rosarote Licht zu blicken, dass jetzt fast völlig sein Denken ausfüllte (tic, tac) und ihn zu verbrennen drohte. Er sah Bilderströme in der Dunkelheit seines Geistes, die mehr und mehr von dem Augenlicht des Mannes durchflutete wurde. Das Kind von einst schluchzte angesichts dessen, was es geworden war und Tac erkannte sich selbst, beobachtete er doch jetzt alles mit der Klarheit, die nur Sterbenden vorbehalten sein mochte. Nein! Ich will nicht sterben! Oh bitte, Gott, wenn es dich gibt, lass es mich noch mal versuchen und ich werde ein ganz anderer Mensch sein – ein besserer Mensch! Lass mich nur.. PENG.
Alles schwarz.

Tageslicht und Motorengeräusch weckte einen Streifenpolizist mit uringenässter Hose, dem bei dieser Entdeckung die Schamesröte ins Gesicht schoss und ärgerlich nach einem Stück Stoff wühlte, um sein kleines Geschäft verschwinden lassen zu können. Als er kaum merklich für vorbeischlendernde Passanten in rosarotes Licht gehüllt wurde, in seinem Tun innehielt und mit einem verstörten, ängstlichen Blick über die Schulter, den Zündschlüssel drehte und nach Hause fuhr.
Es sind nun mal die kleinen Dinge, an die wir erinnert werden müssen.
Tic! Tac! …
 

http://www.webstories.cc 08.05.2024 - 22:07:52