... für Leser und Schreiber.  

Nur ein Traum

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©  locksmith   
   
Ich träumte einen Traum von einer Stadt, die in Wahrheit ein Gefängnis war, mit mehreren offenen Etagen, aber ohne Ausgang, ohne Fluchtweg, und dessen Bewohner nicht wussten, dass sie in einem Gefängnis lebten, weil sie schliefen, alle schliefen sie, obgleich es Tag war! Man hatte ihnen wohl Drogen gegeben, dass sie so tief und fest schliefen, und ich selbst war aufgewacht, aber der Anblick, der sich mir bot ließ mich erschaudern. Dann merkte ich, dass ich fest gekettet war, und neben mir ein weiterer, der ebenfalls nicht schlief und ich fragte ihn, ob das der Tod wäre, ob der Tod so aussieht, dass man aufwacht, und sich in einer Stadt von Schlafenden wieder findet. Doch der Fremde antwortete mir nicht. Einzig sein Blick deutete an, dass ich mich entscheiden müsste, als ob er mich nur geweckt hätte, um mir das alles zu zeigen, und mich dann zu fragen, nein, mir zu befehlen: Entscheide Dich! Und da wusste ich auf einmal, dass dies nicht der Tod war, nicht das Ende, sondern ganz im Gegenteil, dass alle die, welche um mich herum verstreut lagen, als wären sie mitten in ihrem Gang eingeschlafen, dass jene es waren, die in eben diesem Moment dem Tod eigentlich viel näher waren als ich, weil sie an einem schrecklichen Siechtum litten, das sie in diesem Schlaf gefangen hielt, und weil sich auch keiner um deren Leiber kümmerte, die somit unweigerlich dem Verfall preisgegeben waren.
Egal was dieser Traum auch bedeutete, mir war klar, dass er in so intensiver Weise von mir selbst handelte, dass ich ihn nicht einfach abtun konnte, wie die ganzen billigen und trivialen Träume, die ich in meinem Leben schon geträumt hatte. So hatte ich vor einiger Zeit sogar das lächerliche Brauchtum gepflegt, meine Träume in ein kleines Buch zu schreiben, bis mir letztlich auffiel, wie nichts sagend und belanglos diese Träume in Wahrheit doch waren, und wie sehr man sie in verschiedenster Weise auslegen konnte, ohne dass doch irgendetwas Sinnvolles dabei herauskam. Hingegen dieser Traum war anders, denn er besaß etwas, dass sich für mich nicht in Worte fassen ließ, und das man wohl am Besten noch mit einer Sache beschreibt, welche jeder Mensch kennt und fürchtet, obgleich sie jeder Mensch mindestens genauso konsequent verleugnet: ich spreche vom Tod.
Ich scherze nicht, dieser Traum besaß den Tod. Er trug den Tod in sich, aber er handelte auch vom Tod, das wusste ich unmittelbar, so wie man in Träumen viele Dinge unmittelbar weiß, ohne dass die Umstände des Traumgeschehens auch nur den geringsten Hinweis dazu liefern. Und nicht nur das, dieser Traum handelte von meinem Tod, auch das war mir klar. Die einzige Sache, welche ich nicht ganz verstand, war: wer war der stumme Mann, der im Traum neben mir saß, und was wollte er von mir? Doch mir scheint, es war gar nicht so, dass er etwas von mir wollte, sondern viel mehr, als wollte er etwas für mich tun, und da ich in Ketten lag, in dieser seltsamen, mehr-stufigen Stadt aus grauem kalten Beton, scheint es mir jetzt, wo ich im Wachen darüber nachdenke, einleuchtend, dass er mich befreien wollte. Denn, soweit ich mich erinnern kann saß er zwar neben mir, und trug sogar dieselben Lumpen wie ich, aber während es offensichtlich war, dass ich aus der Welt des Schlafes scheinbar nur zufällig in diese Welt des Wachens gelangt war, war dieser Mann eindeutig einer, der der Welt des Wachens angehörte, oder wenigstens schon so lange darin verweilte, dass ihm alle Dinge klar waren, die Situation dieser Stadt, die Situation der Menschen, die darin schliefen, meine Situation. Aber anstatt dass er sich zu meinen Ketten herabbeugte, um sie zu zerschlagen, oder mit einem Schlüssel zu öffnen, oder mich sonst von ihnen zu befreien (wozu er ohne Zweifel in der Lage gewesen wäre), blickte er mich nur in einer Art und Weise an, als wollte er mir sagen: „Du musst dich zuerst entscheiden. Vorher kann ich gar nichts tun“
Wenn ich die erste und jetzt auch die vorhergehende Passage meiner Traumerzählung nachträglich etwas korrigieren darf, es war nicht ganz so, dass er mich anblickte, zumindest nahm ich seinen Blick nicht wahr, genauso wenig wie seine Stimme. Ich sah auch sein Gesicht nicht, und könnte demnach nicht einmal beschreiben, wie dieser Mann aussah. Mir kam es so vor, als ob er einen Bart trug, aber auch das könnte in diesem Moment von mir hinzugedichtet sein, ohne dass es mir bewusst wäre - so wie man bei der Schilderung von Träumen, trotz aller beabsichtigten Redlichkeit, immer Dinge hinzudichten muss, um die Lücken zu schließen, welche die Erinnerung offen lässt. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er saß, und nicht etwa stand und von oben auf mich herabblickte, was mir sicher noch deutlicher gemacht hätte, was ich ohnehin wusste, nämlich dass er frei war, und ich gefangen. Hingegen, er saß, und er saß nicht nur, sondern er saß neben mir, seine Beine ebenso nach vorne ausgestreckt wie meine, und so kam mir dieser Mann auch nicht vor, wie ein großer Befreier, wie ich ihn mir auf einem gepanzerten Ross, mit Degen und Schrotflinte vorstellen würde, sondern eher wie ein Bruder, der mich vielleicht sogar schon seit meiner Geburt kannte, und wer weiß wie lange schon da neben mir gesessen war und darauf wartete, dass ich erwachen würde - aber all das kann ich zugegeben nicht wissen, sondern ich lasse nur meine Fantasie weiterspielen, was mein Traum mir leider nicht offenbaren wollte.
Jedenfalls sprach er dann zu mir, oder wie gesagt er sprach eigentlich kein Wort, sondern war stumm, aber er sprach, ohne tatsächlich zu sprechen, als stünde er mit mir in einer telepathischen Verbindung: „Du musst dich entscheiden“ - und es waren auch gar nicht genau diese Worte, und je länger ich erzähle, umso mehr muss ich mir selbst und dem teuren Leser eingestehen, dass ich gar nicht genau weiß, ob es überhaupt Worte waren, oder ob dieser Mann nicht durch seine bloße Anwesenheit diese Aufforderung in mir erzeugte. Wenigstens war es mir, als wollte dieser Mann, dass ich mich entscheiden würde, aber gleichsam, als ob er mich damit vor eine Wahl stellte, die ich sowieso zu treffen hätte, als wäre mein Leben selbst diese Entscheidung, und als würde er mir das alles, diese Stadt der schlafenden Leichnahme, der toten Träumer, der sterbenden und dahinsiechenden Leiber nur zeigen, um mir einmal einen anderen Blickwinkel auf meine Welt zu eröffnen, denn zweifellos: diese Welt war nicht real. Sie war es nicht in dem engeren Sinne, was man heutzutage Realität nennt, und sie war es auch nicht in dem weiteren Sinne von „Wahrheit“, denn dazu war dieses ganze Szenario des Schreckens viel zu grauenhaft und widerwärtig und abartig und skurril. Diese Welt zeigte mir eine verkehrte Welt, aber gleichsam war sie selbst noch immer die verkehrte Welt, gleichsam als ob man eine verkehrte Welt umgekehrt hätte, und in der die Schlafenden Wachende waren und die Wachenden Schlafende - aber ganz eigentlich war auch diese umgekehrte verkehrte Welt eine verkehrte Welt, denn die Schlafenden schliefen ja noch immer und sie schliefen bei helllichtem Tage, und alleine das war so verkehrt, dass es eben nicht normal und schon gar nicht richtig war. Und wenn ich genauer darüber nachdenke, war es eigentlich ziemlich vermessen, von diesem Herrn mich angesichts dieser Situation um eine Entscheidung zu bitten, konnte er doch schwerlich von mir verlangen, mich für diese Welt zu entscheiden, in der die Menschen alle schliefen, und noch weniger, dass ich mich für den Schlaf entscheiden würde, jetzt, wo ich gesehen habe, wie die Schlafenden alle dahinsiechten und die Spucke aus ihren Mündern floss und wie sie ihre Kleidung im Staub des Stadt wälzten und dabei unsinnige zusammenhanglose Worte von sich gaben. Nein! Wie konnte dieser Mann mich vor diese grausame Wahl stellen, mich entweder diesem Anblick auszusetzen, dieser verwahrlosten und dekadenten und würdelos krepierenden Menschheit, oder mich zurück zu begeben, in jenen Schlaf, wo auch ich zweifellos genauso verwahrlosen und verfallen und letztendlich krepieren würde! Sollte dies ein übler Scherz sein? Wenn das der Tod war, dann war der Tod ja noch viel schrecklicher als ich es mir je ausgemalt hatte! Dann sollte man sich doch lieber davor hüten, aufzuwachen, und diesen Traum ein Leben lang voll genießen! Aber so einfach war es eben nicht. Denn - wie gesagt - diese Menschen waren nicht tot, sie schliefen. Und diese verkehrte Welt war nicht das Ende, sondern nur ein Übergang, eine Art Zwischenwelt, eine Realität, die nicht sein durfte, und doch war, eine Brücke zur Hölle, aber noch nicht die Hölle selbst, und in diese „Vorhölle“ wurde ich hineingezerrt und man forderte mich auf, mich zu entscheiden, entweder diese Welt oder eine andere.

Und da brach es aus mir heraus: eine andere Welt! Und im selben Atemzuge: Ich weiß, dass du es bist, ich weiß, dass du zu meiner Rettung hier bist, ich weiß es! Ich entscheide mich für dich! Rette mich! Rette mich aus diesem Albtraum!
 

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