... für Leser und Schreiber.  

Die Silberkette

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17 Stimmen
   
©  Clarenbach   
   
Menschen hasteten die Straße entlang und würdigten sich nicht eines Blickes. Überall drangen Handyklingeltöne ans abgestumpfte Ohr der Masse. Beschwichtigende Worte in winzigen Sprachrohren tauschend, verengte sich deren Wahrnehmung auf ein Minimum. Sie verloren den Kontakt zu ihrer unmittelbaren Umgebung; drückten auf die Stummtaste, während die Maschinen unaufhörlich in ihrem harten, abgehackten Rhythmus dröhnten.
»Ojemine! Schon wieder so spät dran. Was mach ich jetzt nur, was mach ich? Verdammt, verdammt, verdammt! Was kannst du eigentlich, Franziska, hm? Wie blöd kann man nur sein und vergessen sich den Wecker zu stellen?! «
Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und wünschte, sie hätte etwas mehr Grips bewiesen, als dieser vonnöten gewesen war. Es heißt, ein Blick über die Schulter bringe Klarheit.
»Wieso, wieso, wieso, wiesoooo? – Aaargh! «, sagte Franziska und raufte sich die Haare. »Nicht mal zum Duschen bin ich gekommen – was sollen die beim Bewerbungsgespräch jetzt nur von mir denken? « Sie stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Vielleicht hätte ich gleich zuhause bleiben sollen. Mir den ganzen Stress ersparen sollen. Ich meine, welchen Eindruck wird man wohl als verschwitzte blöde Kuh machen?! Die werden mich doch nie und nimmer einstellen! «
Franziska ging schneller und drängte ihren zierlichen Körper durch die Passantenflut. Neben Protestrufen erntete sie sanfte Po Streicheleinheiten von denen, die ihre kurzzeitige körperliche Nähe ausnutzten. Mehr als einmal bekam sie einen Klaps. Als sie sich aber mit hochrotem Gesicht empört umdrehte, war es wieder einmal nur die anonyme Masse – kein Täter in Sicht. Daraufhin bahnte die Frau sich vorsichtiger einen Weg zur nächsten Ampel, die gerade auf Rot schaltete.
»Komm schon. Werd wieder grün. «, murmelte Franziska und kaute das Rot fixierend auf der Unterlippe. Ihre Finger spielten mit der Silberkette um ihren Hals, während sie mit der freien Hand den Schultergurt der Tasche zurechtrückte.
»Oh, bitte – mach schon. Haaah! «, sagte sie etwas lauter.
»Junge Dame? « Ein vom Alter gezeichneter Mann musterte sie besorgt, was sein Gesicht noch runzliger erscheinen ließ – aber gutmütig. Franziska erinnerte er an den wohlwollenden Alten aus den Märchen ihrer Kindheit. In diesen hatte sich alles stets zum Guten gewendet für den Helden und seine Angebetete. Aber sie war weder eine jungfräuliche Prinzessin in Nöten, noch war ein kraftstrotzender Edelmann in der Nähe, der sie von dem Ungetüm, das von ihr Besitz ergriff, erretten konnte.
»Geht es Ihnen nicht gut? «, fragte er. »Sie sehen so gehetzt aus. Und wie schnell Sie atmen! Wollen Sie sich nicht einen Augenblick hinsetzen? Gleich dort drüben ist ein Park. Ich.. «
So sehr sie auch diesem Angebot nachgekommen wäre, trieb sie doch ein Teil ihres Selbst weiter. Wenn sie dem Drachen, der sie gefangen hielt, entkommen wollte, musste sie sich sputen solange die Käfigtür offen war. Sie würde der Zeit einen Haken schlagen und rechtzeitig vor Ort angelangen.
»Nein, nein. Wirklich alles bestens – wirklich! «, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin in Ordnung, danke. «
Der alte Mann wollte widersprechen, sah dann jedoch den entschlossenen Blick Franziskas und nickte schließlich, als er wieder seinen eigenen Gedanken nachhing: Was es wohl heute zu Mittag geben würde?
Franziska schalt sich ihrerseits fortan den Mund zu halten und einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Ampel schaltete auf Grün. Sie setzte sich in Bewegung, doch plötzlich rempelte sie jemand hinterrücks an, so dass sie beinahe gestürzt wäre. Benommen vom Zusammenstoß hielt sie den Atem an und streckte die Arme weit von sich. Der Mann in braunen Anzug, der sie fast von den Beinen geholt hatte, warf einen Blick über die Schulter und formte mit seinen Lippen Worte, die in Franziskas Ohren lange nachhallen sollten: Sie gehört mir. Ihre Gedanken rasten, während sie sich aufrichtete und sich Stille in ihr ausdehnte – wie Nebelschwaden, die wenig später die Landschaft verschlucken würden. Was gehört ihm? Er vergrößerte seinen Vorsprung und näherte sich unablässig der anderen Straßenseite. Franziska starrte ihm unschlüssig hinterher, als ihre Finger nach der Kette tasteten. Fort. Die Silberkette – ein Überbleibsel ihres Vaters – hing nicht mehr um ihren Hals. Sie kniff die Augen zusammen. Nein! Das ist nicht wahr, das ist nicht passiert. Eine Träne entwich und stürzte in die Tiefe.
»Doch, ist es. «
Erschrocken schlug sie die Augen auf, suchte nach der Quelle dieser Stimme und erkannte, dass niemand bei ihr stand, der das Wort an sie richtete. Menschenmassen zogen an Franziska vorbei und sie wusste, dass sie allein war.
»Was? «, fragte sie und wusch sich mit dem Handballen die Tränenspur von der Wange. Sie rechnete nicht mit einer Antwort aber sie sollte eine bekommen:
»Du bist traurig was, Mädchen? «, fragte die Stimme. »Ich kann dir helfen. Lass mich dir behilflich sein den Braunen zu fangen, hm? Wir holen uns deine silberne Halskette wieder. Du und ich. Wir beide zusammen. Ein Team – was sagst du? «
Für einen Moment war Franziska zu überrascht um auf diesen Vorschlag näher einzugehen und suchte mehr aus Gewohnheit als aus Gewissheit noch einmal nach einem Menschen, der zu ihr sprach. Nein, keiner da. Es war etwas beruhigendes, etwas Einnehmendes an dieser Stimme, die so außerordentlich lieblich klang. Ihr war klar, dass sie nicht anders konnte als ihr zu lauschen – war sie doch so wunderschön.
Wenn Zeit etwas Fassbares war, so begann sie jetzt zu gefrieren. Alles harrte aus – lauernd auf ihre Entscheidung. Die Masse erfuhr Stagnation, während Franziska sich von der ausstehenden Wahl schier auseinander gerissen fühlte. Bilder des Horrors, Schmerzes und Lust aber auch der Hingabe, Leidenschaft und ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Wie konnte sie dem fernbleiben?
»Du hast es in der Hand, Mädchen. «, sagte die Stimme. »Bittest du mich um Beistand? «
Der Zweifel nagte an ihr, verband ihr die Augen und schilderte wildeste Träume, Wünsche, Hoffnungen von festsitzender Angst wie freier Liebe. Das Gefühl an den eigenen Empfindungen zu ersticken, welche alle zugleich auf sie einprügelten und sie liebkosten – wie dickflüssiger Honig, der so furchtbar süß schmeckte und man Gefahr lief sich damit die Atemwege zu verstopfen - , war ausschlaggebend für Franziska und so schwang sie ein imaginäres Schwert und zerschnitt das Band.
Plötzlich war da nichts mehr. Sie stand (oder fiel), doch hatte sie weder das Eine noch das andere Gefühl – vollkommene Leere. Niederblickend erkannte sie zwei Hälften eines Bandes in ihren Händen liegend. In der Rechten wiegte sie ein Rosa bis Scharlachrotes, in der Linken berührten Fingerkuppen das reine weiße Band. Abwägend untersuchte sie beide Teile genauer; roch an ihnen, leckte sie ab, fuhr über ihre Oberfläche, hielt sie sich versuchsweise ans Ohr aber Franziska konnte keine weiteren Unterschied bis auf die farbliche Trennung erkennen. Doch das war nicht ganz richtig. Das Weiße schien ihr schwerer zu werden oder das Rote begann einer Feder zu gleichen. Während diese Gewichtsverlagerung vonstatten ging, folgte Franziska letztendlich nüchtern dem Prinzip des kleinsten Zwanges, sank die linke Hand und legte den weißen Fetzen ab.
Grelles Licht blendete sie und als sie die Augen wieder öffnete – es schien das zweite Mal zu sein -, war sie wieder auf der Straße. Aber sie fühlte sich nicht mehr allein. Schreckliche Klarheit befiel ihre Vision der Welt, wie sie sie gekannt hatte und brachte sie auf die andere Straßenseite. Alles begann zu flimmern, eine so verzerrte Wahrnehmung, als sähe sie durch erhitzte Luft – wie als wäre die Welt in ihrer Abwesenheit in Flammen aufgegangen.
»Wo bin ich? «, fragte Franziska. »Was ist passiert? « Nach einer Pause. »Was ist mit mir geschehen? «
»Wir sind auf der Jagd, Mädchen. «, sagte die Stimme. »Still jetzt! Du schreckst die Beute auf… «
Ein Bild schoss ihr durch den Kopf: Der Mann in Braun floh in eine aussichtslose Lage und sie folgten ihm.

Der Mann in Braun fand sich in einer Sackgasse wieder. Schnaubend lehnte er sich an die Wand, genoss deren feuchte Kühle, die sein kochendes Blut wegschwamm und trocknete den Schweißfilm auf seiner Stirn mit dem Hemdärmel. Er sah herab: Rosarote Kaugummireste, Zigarettenstummel und benutztes Zeitungspapier bedeckten den Untergrund. Das war alles, was er in dieser schattigen Ecke erkennen konnte. Der Mann namens Andreas entfernte sich von der Mauer, spürte seine Unterhose im Schritt scheuern und hielt inne. Er war in seinem gesamten Leben noch nie derart schnell gewesen wie wenige Minuten zuvor, wusste auch nicht woher er diese Kraft bezogen hatte aber jetzt, als sie nachließ, fühlte er seine Beine beben. Wie brüchige Stahlbauten, die bei der nächstgrößeren Erschütterung zerbarsten. Sein brauner Anzug klebte an ihm wie eine zweite Haut und erneut begannen Schweißtropfen sein Gesicht zu überfluten. Er machte sich nicht mehr die Mühe diese wegzuwischen. Kräftezehrende Bewegungen – waren sie noch so geringfügig – musste er vermeiden, wenn sein Weg wieder hier herausführen sollte. Andreas war sich selten seiner eigenen Sterblichkeit bewusst gewesen aber dies war einer dieser Momente. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Ding, das ihn verfolgte. (Bittest du um meinen Beistand, Mann?) Mit pochendem Herzen stakste er vorwärts dem Sonnenlicht entgegen.

Eine Ritterin in strahlender Rüstung trieb den Erd-Drachen fort von den Bewohnern ihrer prächtigen Burg, jagte ihn ins dunkle Loch, aus dem er entflohen war. Die Menschen jubelten ihr zu, spornten ihren braunen Wallach mit Schlägen auf die Flanken weiter an. Schlachtrufe ausstoßend verfolgte sie das Übel bis vor seinen Hort. Kehliges Rumoren drang aus dem Ort des Schattens und ein schnalzender Laut wie das Knallen einer Peitsche ließ bei Ross und Reiterin erste Bedenken an der siegreichen Vollendung der Queste aufkommen, doch…

Franziska spurtete dem Mann in Braun beinahe mühelos durch das Gedränge hinterher und geriet nur wenige Male ins Straucheln, als einige Passanten ihr, trotz vehementen Rufens, den Weg versperrten. Doch schon bald wandelte sich die Situation zu ihren Gunsten: Der Gejagte floh immer weiter in weniger belebte Straßen. Bisher hatte er seinen Vorsprung ausbauen können, doch Franziska hoffte ihn in offenerem Gelände einzuholen – ihr Bewerbungsgespräch war längst in Vergessenheit geraten. Der Wiederbeschaffung der Silberkette oblag höchste Priorität. Sie spürte die Kräfte des Mannes in Braun verebben wie als hätte bei ihm jemand die Luft herausgelassen, die ihn zuvor ballgleich fast widerstandslos durch die Straßen hatte kommen lassen. Franziska verzog das Gesicht zu einer freudigen Grimasse – jetzt hatte sie ihn. Die Stimme hielt Wort.

…der Drache grinste mit blitzenden Augen…

Rosarote Zungen schnalzten und vergruben ihre Widerhaken in Andreas’ Schuhe, dem sämtliches Blut in die Beine gewichen war. Die obersten Stockwerke seines inneren Hochhauses gingen in die Luft und rissen alles der Reihe nach mit sich, bis da nur das Dunkel blieb. Er schlug mit den Knien am Boden auf, während er vom Kaugummiknatschen-Relais begleitet das Ding erwartete, das ihn verfolgt hatte. Das grässlich vielgliedrige Monstrum. Stattdessen sah er eine Frau die Sackgasse betreten – sie war hübsch, doch galt seine Aufmerksamkeit schnell allein der Silberkette um ihren Hals, die im Sonnenlicht herrlich glitzerte. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er dachte, dass alles gut war – die Stimme hatte ihm tatsächlich geholfen (das Ding schien fort zu sein) -, als Franziska vorwärts stürmte.

…während Ross und Reiterin unruhig außerhalb des Hortes ausharrten, brach plötzlich die Sonne durch die dicke, graue Wolkendecke und hob den Mut der Beiden. Die Ritterin in strahlender Rüstung trieb ihren braunen Hengst in das dunkle Loch. Dort lag die Erfüllung, die sie suchten.
»Meine Freunde! Ich werde euch von eurer fleischlichen Bürde befreien. Dankt es mir nicht. Es bereitet mir Vergnügen – kommt! So kommt und seid mein Leibgericht. «, sprach der Drache und empfing sie mit dem Feuer seines Herzen – rosarot.

»Bleiben Sie zurück! Bleiben sie bitte hinter der Absperrung! «
Polizeibeamte hielten die sensationsheischende Meute fern, während die Kollegen der Spurensicherung zwei Leichname untersuchten.
»Zurück hab ich gesagt! «
Ein Mann in Braun. Und. Eine junge Frau. Allein. In einer zwielichtigen Gasse und es gibt bisher nicht einen Hinweis auf den Verbleib des Mörders, dachte Ben. Er sah sich das Mädchen (er hatte insgeheim begonnen sie so zu nennen) an, begutachtete ihre zierliche Statur, suchte nach augenscheinlich wichtigen Spuren, die er übersehen haben könnte. Nichts. Seufzend erhob er sich und seine Knie knackten. Ben war kein Anfänger mehr – viele behaupteten er hätte einen sechsten Sinn für seine Arbeit entwickelt – aber es erweckte weder den Eindruck eines Sexual- noch etwaig anderem Gewaltverbrechens. Fast als wären diese Beiden hierher geflohen und sich einfach in den Armen liegend gestorben. Ben kratzte sich am Kinn, dachte angestrengt nach. Unwahrscheinlich. Aber wovor sind sie geflohen?
Ein Aufblitzen, das er aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, schreckte ihn auf und als er sich danach umdrehte, erkannte er Fotografen hinter der Absperrung, die sich beinahe tollwütig um ein gutes Foto der Toten stritten. Verrückte Welt. Mehr aus Pflichtbewusstsein, denn einer plötzlichen Eingebung folgend, entdeckte er eine silberne Halskette, die das Mädchen mit geschlossener Faust umklammerte. Wie konnte ich das übersehen?, dachte er und schalt sich einen Dummkopf. Er nahm sie ihr ab, was noch erstaunlich leicht vonstatten ging, da die Leichenstarre noch nicht begonnen hatte – Wie auch? Sie konnten noch nicht lange tot gewesen sein, als wir hier angekommen sind – und war im Begriff sie in seine Hosentasche zu stecken. Mit großer Anstrengung konnte er sich stoppen und starrte das Ding entsetzt an. Seine Blicke bohrten sich förmlich in das glitzernde Metall und schienen einen verborgenen Zauber zu suchen. Nichts. Da war nichts. Aber es gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Er hockte noch eine Weile dort und tat seine Arbeit, bis die Welt im Lärm der dröhnenden Maschinen unterging.
Wer bittet um Beistand?
 

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