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Die Fabel vom Efeu und der Kiefer

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© Wolfgang Reuter   
   
Mitten im Wald, wo er tief wird und tiefer,
wo kaum noch Sonne den Boden erreicht,
wächst im Verborgenen sacht eine Kiefer,
langsam und mühsam – es fällt ihr nicht leicht.
Denn in der Dämmerung wächst es sich nicht. –
Es fehlt ihr das Licht!

Unter der Kiefer ein Efeu hinkümmert,
kühl ist es hier zwischen Farnen und Moos.
Kärglich das Licht, kaum ein Sonnenstrahl schimmert,
klein bleibt der Efeu und wär so gern groß.
Gierig späht er an der Kiefer hinauf:
Da müsste man rauf!

„Darf ich dein Partner sein?“, flüstert die Ranke,
„wachsen gemeinsam wir hoch wie ein Turm!“
„Gern“, sagt die Kiefer, „ein guter Gedanke,
stütz mich – dann trotzen wir jeglichem Sturm!
Wenn wir zusammenstehn, werden wir groß.“
Schon wachsen sie los.

Und so beginnt ihr gemeinsames Leben.
Schnell wächst die Kiefer, vom Efeu gestützt,
kann bis ins Blätterdach kraftvoll sich heben,
dort, wo die Sonne die Wipfel durchblitzt.
Platz an der Sonne – mit doppelter Kraft
ist's endlich geschafft!

Bald jedoch hört man die beiden sich streiten.
Jeder beansprucht mehr Sonne für sich,
drängelt und schiebt, um sich weit auszubreiten.
Freunde von einst lassen so sich im Stich,
zanken sich hart um den Sonnen-Platz-Sieg,
erklär'n sich den Krieg.

Doch weil der Efeu sich schlängelt und windet,
hat er schon bald alle Sonne allein.
Nichts bleibt der Kiefer mehr übrig, sie findet
fast keinen Zugang mehr zum Sonnenschein.
Kühn wächst der Efeu, gewaltig und forsch.
Die Kiefer wird morsch.

Als dann ein Sturm aufzieht, kommt's zum Finale:
Schnell bricht der wacklige Kiefernstamm weg,
reißt auch den Efeu mit. Mit einem Male
liegen die Streithähne nutzlos im Dreck.
Und die Moral von der langen Geschicht?
Krieg lohnt sich nicht.

http://www.wolfgang-reuter.com, 18. 07. 2009
 

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