... für Leser und Schreiber.  

Marie

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©  Middel   
   
Sie sagt so Sachen wie: „Ich glaube wer im Schatten seiner subjektiven Realität Bezüge zum Fatalismus knüpft, verliert primär die Liebe zu sich selbst.“ Und ich schaue sie mit großen Augen an. Wo sie das nur wieder her hat. „Ich meine keinesfalls Narzissmus oder übertriebene Egozentrik.“ (Gibt es eigentlich auch eine nicht übertriebene Egozentrik, frage ich mich in diesem Moment). „Ich meine, wer sich selber nicht liebt, der kann doch nicht fähig sein andere zu lieben, oder?“ Ich glaube jetzt erwartet sie eine Antwort und ich kratze mir gezielt unauffällig den Hinterkopf, so wie ich es gemeinhin tue, wenn ich wirklich nachdenke.
„Mmm“, verschaffe ich mir noch ein paar Sekunden Zeit, „das sind ein paar sehr interessante Gedankengänge Schatz, aber ist es nicht ein wenig spät, um sich darüber gerade jetzt den Kopf zu zerbrechen?“ Sie schmollt und ich ärgere mich über mich selber. Schließlich sollte gerade ich derjenige sein, der sie unterstützt und in ihren tiefschweifenden Gedanken festigt, ihr die Sicherheit gibt, intellektuelle Brücken zu überqueren, ob in mathematischer, kultureller oder philosophischer Sicht. Aber heute fehlt mir irgendwie die Kraft dazu. „Vielleicht“, fährt sie nun trotzig fort, „vielleicht bist du einfach noch nicht reif für eine Konversation auf diesem Niveau. Eventuell versuchen wir es in einiger Zeit einfach noch einmal. Ich bin jetzt auch müde, liest du mir noch was anderes vor, Papa?“ Ihre finstere Miene erhellt sich und ich nicke gütig, während ich mir schwöre, nie wieder etwas von Erich Fromm herumliegen zu lassen.
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 00:12:24