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Crysella und der Schwarze Mond / Kapitel 6

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©  rosmarin   
   
6. Kapitel
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Das Handy klingelte. Matthias war dran. Also hatte er sein Versprechen gehalten. Crysella drückte ihn weg. Er passte nicht in ihren heutigen Tag.
Ein untrügliches Gefühl machte sie gewiss: Heute würde etwas passieren. Wieder etwas. Doch diesmal etwas Einmaliges. Etwas Niedagewesenes. Etwas total Verrücktes.

Im Gegensatz zu gestern zeigte sich der Tag trübe. Regenverhangen und diesig. Keinen Hund würde man bei diesem Wetter auf die Straße jagen.
Mit einem Satz sprang Crysella aus dem Bett, wickelte sich in ihren langen, schwarzen Mantel, nahm den schwarzen Schirm aus dem Ständer und verließ eilig die Wohnung.
Ruhelos trieb es sie hinaus in die Riesenstadt, die der Morgen in lange Wolken gehüllt hatte. Sie spannte den Schirm auf, spazierte etwas am Spreeufer entlang, blieb manchmal auf einer Brücke stehen, beugte sich über das schmiedeeiserne Geländer, starrte in das Wasser. Ihr schien, als lägen gespenstische Schleier darüber gleich herbstlichen Spinnweben. Und die noch nicht ausgeschalteten Straßenlaternen spiegelten sich darin wie kleine Kobolde.

Wie liebte sie diese undurchsichtigen Tage.
Diese Grenze zwischen Hell und Dunkel.
Gut und Böse.
Gedeih und Verderb.
Leben und Tod.
Wann würde sie überschritten.
Wann?
Diese Grenze.
Zwischen Realität und Wahnsinn.

So lief sie weiter und weiter. Verließ die Hauptstraße, bog in eine verkehrsarme Seitenstraße ein und blieb vor einem kleinen Laden stehen, angezogen von den esoterischen Büchern, Kleidungsstücken, kultischem Kleinkram.
Hinter dem Ladentisch stand unbeweglich eine Frau. Groß und schlank. Und lange, rote Haare ringelten sich gleich trägen Schlangen auf ihrem Rücken. Ihre Haut schimmerte wie Elfenbein. Und ihre wohlgeformte Gestalt war für alle sichtbar unter den schwarzen Schleiern, unter denen sie ein paar durchsichtige, blau schimmernde Flügel zu sehen vermeinte.
Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, blieb dann aber wie erstarrt stehen.
Die Frau hatte lässig einen Arm gehoben, als winke sie ihr, einzutreten.
Mit magischer Kraft zog es sie in den Laden. Und als die Türglocke schellte, wusste sie: Sie war gefangen. Es gab kein Entrinnen.
„Schön, dass du da bist“, sagte die Frau mit dunkler Stimme.
Diese Stimme. Diese Augen. So hell. So grün. So dämonisch. Ja, grün ist die Farbe der Dämonen. Oder blau? Sie wusste es nicht so genau. Jedenfalls war sie fasziniert von den Augen dieser Frau, die sie so magisch anzogen.
Bestimmt war das Lilith. Die Frau im Spiegel. Die Verführerin. Die Zauberin.
Schon Mephisto sagte einst zu Faust in der Walpurgisnacht, während er auf eine der Hexen zeigte:
'Betrachte sie genau. Lilith ist das. Adams erste Frau. Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren. Vor diesem Schmuck, mit dem sie prangt. Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, so lässt sie ihn so bald nicht wieder fahren'.
„Ich habe lange auf dich gewartet“, sagte die Hexe.
„Woher wusstest du, dass ich komme?“
„Hexen riechen sich. Über viele Meilen.“ Sie reichte Crysella die Hand. „Ich bin Vanessa.“
Was sollte das. Sie eine Hexe. Sie hielt nichts von Esoterik. Glaubte nicht an Hexerei, Hellsehen, Karten und solchen Quatsch. Nur einmal hatte sie ganz zufällig in einem Handlesebuch geblättert, es auch ganz interessant gefunden und ihr neues Wissen spaßeshalber bei ihren Freunden und Kollegen getestet. Aber schon bald langweilte sie dieser Zeitvertreib und sie vergaß ihn wieder.
„Sträub dich nicht“, sagte Vanessa. „Ich weiß, dass du Handlesen kannst. Doch ich kann dir aus der Hand die Zukunft voraus sagen. Bist du bereit?“
„Aber die Wahrheit liegt hinter dem Licht.“
„Wahrheit. Was ist das. Jeder hat seine eigene Wahrheit.“
Was sagte Vanessa da. Lilith hatte doch gesagt, die Wahrheit läge hinter dem Licht. Also war Vanessa doch nicht Lilith. Aber diese Ähnlichkeit.
„Ich muss sie suchen“, erwiderte sie etwas verunsichert. „Sie liegt hinter dem Licht“
„Sie ist in dir. Erkenne dich selbst.“
„Du spinnst.“ Langsam hatte Crysella genug von der seltsamen Konservation und beschloss, sich auf nichts mehr einzulassen. Noch immer war es ihr ein Rätsel, wie sie diesen Laden betreten konnte. „Ich gehe“, sagte sie und legte ihre Hand auf die Klinke.

Hatte sie Angst vor der Wahrheit. Ihrer Wahrheit. Der Hexe Wahrheit. Dem Licht, hinter dem sie verborgen sein sollte?
Sie wusste nicht so recht, was sie denken sollte. Ein diffuses Gefühl warnte sie. Sie musste dieser Frau entfliehen. Dieser so genannten Hexe. Allmählich war sie die mystischen Gestalten überdrüssig. Gleich Gespenstern begegneten sie ihr überall. Verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Mischten sich ungebeten in ihr Leben. Sie wollte endlich wieder sie selbst sein. Sie wollte Ricardo wiederhaben. Wo steckte der Kerl nur. Sie musste weg. Nur weg. Seit Ricardo sie verlassen hatte, erschien ihr ihr Leben wie ein nicht enden wollender Spuk. Entschlossen drückte sie die Klinke nieder.
„Schön, dich kennen gelernt zu haben“, sagte sie zu Vanessa. „Vielleicht komme ich ein andermal wieder vorbei.“
Da entdeckte sie die Wendeltreppe. Wendeltreppen hatten sie von je begeistert. Schon als Kind ist sie auf jeden Kirchturm, der eine Wendeltreppe hatte, gestiegen. Die unzähligen, verbeulten, ausgetretenen Stufen hatten es ihr angetan, versprachen sie doch ungeahnte Abenteuer, Erlebnisse, die nur ihr beschieden sein würden. Wie eine Schlange schlängelten sie sich. Höher und höher. Schlängelten sich in den Himmel. Die Sonne. Den Mond. Manchmal führten sie in ein verstecktes Kämmerlein. Vielleicht ein ehemaliges Verlies. Und manchmal kreuzten sie einen anderen Weg. Aufgeregt folgte sie tapsend den ausgetretenen Spuren. Ihr Ziel war der Turm. Der schiefe Kirchturm. So weit entfernt von der Erde. Und doch zu erreichen.
„Ich bin frei!“, rief sie glücklich, wenn sie oben war, auf der Brüstung stand, vor dem niedrigen Geländer. „Frei! Frei!“ Sie schwenkte ihre kleinen Arme. „Frei!“
Wie ein bunter Teppich wiegte die Erde sich unter ihr. Und der Wind brauste um ihre Ohren.

Und nun stand sie wieder vor einer Wendeltreppe. Vielleicht ein Wink des Schicksals? Beschworen durch Lilith. Dieser düsteren und Furcht erregenden Frauenfigur, die in jeder von uns Gestalt anzunehmen vermag.
Würde sie ein Licht werfen in das undurchdringliche Mysterium ihrer frühen Kindheit?
Stumm sah sie zu Vanessa, die unbeweglich hinter dem Ladentisch stand. Hatte sie sie hypnotisiert. Sie wollte gehen und konnte nicht?
Erst jetzt nahm sie den betörenden Duft von Weihrauch wahr. Schwer und süßlich lag er über dem Laden, ließ keinen Raum mehr für eigene Gedanken.
In einer Ecke, gleich links neben der Wendeltreppe, standen auf einem indischen Seidentuch verschiedene Duftöle, Seifen, Kerzen, Wässerchen, Kräuter. Unentbehrliche Dinge für Hexenrituale. Und aus einem sechseckigen, grauen Tiegel flackerten graue, duftende Wölkchen.
„Die Treppe führt in mein Heiligtum“, sagte Vanessa mit ihrer erotischen Stimme. „Es birgt die abgründigen Geheimnisse aller Geschöpfe. Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, ihr eigenes Geheimnis zu ergründen. Ihre Zukunft zu erahnen. Ich bin auserkoren, dir dabei zu helfen.“
Crysella antwortete nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Kristallkugel, die auf dem Ladentisch stand und die sie schon beim Eintreten bemerkt hatte. Jetzt verdunkelte sich das Glas. Graue Wolken zogen schnell über dunstige Weiße.
„Das hat nichts zu bedeuten“, sagte Vanessa, die ihrem Blick gefolgt war. „Es gilt nicht dir. Folge mir.“

Langsam stiegen sie die hölzerne Treppe empor, standen bald in einem kleinen Gemach.
Der Raum war ohne Fenster. Wände und Fußboden bedeckten kostbare orientalische Teppiche, Altarkerzen wuchsen wie Blumen daraus hervor, verbreiteten ein angenehmes, warmes Licht. Überall lagen Kissen aus kostbaren Stoffen herum, wie kleine Inseln, die zum Verweilen einluden. Und es roch auch hier betörend nach Weihrauch.
Und da war sie wieder. Diese Musik. Diese wunderbar süße Musik. Die Sethmusik, wie sie sie nannte. Verzaubert lauschte sie diesen bekannten und doch immer wieder neuen wunderbaren Tönen. Sie schlüpfte aus ihrem schwarzen Mantel, der raschelnd zu ihren Füßen fiel, und begann zu tanzen.

*
Crysella tanzte zu der ungewöhnlich geheimnisvollen Musik. Ihr Körper schien sich ohne ihr Zutun zu bewegen, zu verschmelzen im Rhythmus dieser lieblichen Töne. Immer machtvoller erklang die Musik, mysteriöser, magischer. Wie von selbst glitten ihre Hände über ihren Körper. Berührten ihre Brüste. Verharrten an den sich immer mehr erigierenden rosigen Warzen. Streichelten langsam über ihren Bauch. Verharrten zwischen den leicht geöffneten Schenkeln. Streiften ihr kurzes rotes Hemd herunter, griffen wieder in ihr volles, braunes Haar. Berührten sanft ihr Ohr. Anmutig neigte sie ihren Kopf und tanzte einen imaginären Schleiertanz. Immer schneller drehte sie sich im Kreis. Schneller. Wilder. Sehnsüchtiger. Bald hatte sie alles um sich herum vergessen, ergab sich willig der Musik. Zärtlich und leidenschaftlich. Und ihr Körper, dessen Bewegungen mit den lieblichen Tönen zu verschmelzen schienen, wand sich schlangengleich. Ihr schien, als tanze sie zu den im Nebel der Zeit verborgenen Inseln des Glücks und ein süßes Ziehen erfasste all ihre Sinne.

*
Doch plötzlich erstarrte sie in der Bewegung.
„Halt.“ Vanessa hatte ihre Hand genommen. „Hier ist nicht der rechte Ort dafür“, sagte sie leise, drückte sie sanft auf ein Rosenkissen und legte eine Kristallkugel vor sie hin. „Schau hinein“, forderte sie. „Du wirst finden, was du suchst.“
Mit einem unergründlichen Lächeln zeichnete Vanessa ein unsichtbares Kreuz vor Crysellas Gesicht, ohne es zu berühren.

Crysella, die all dies willenlos mit sich geschehen ließ, starrte gebannt in das kristallene Nichts.
Die Welt war draußen. Neugier und Leidenschaft nahmen Besitz von ihr. Und Sehnsucht. Sie kam sich vor wie Aladin mit der Wunderlampe, sah sie förmlich vor sich, gefüllt mit rotem Duftöl. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie sich was wünschen könnte.
„Du darfst“, sagte da Vanessa. „Doch ob es sich erfüllen wird, liegt nicht in meiner Macht. Alles in dieser Welt unterliegt einer ganz bestimmten, wohldurchdachten, göttlichen Ordnung. Und nun reich mir deine linke Hand."
Crysella blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
Fast zärtlich nahm Vanessa ihre Hand. Betrachtete lange die ausgeprägten Linien und sagte dann:
„Du bist der Liebe nicht mehr fähig. Du suchst das Glück im Fleische. Doch da wirst du es nicht finden. Und was das Gefährlichste ist: Du kannst nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Traum. Das Leben ist kein Traum. Lebe es. Versinke nicht in deinen Träumen. Sie gehören in ein anderes Land. In ein Land, zu dem wir keinen Zugang haben.“
Crysella hatte wohlig die Augen geschlossen. Es war so schön, der betörenden Stimme der Hexe zu lauschen. Doch jetzt war sie leider verstummt.
„Ich sehe Übel“, murmelte Vanessa plötzlich nach einigen Minuten konzentrierten Schweigens. „Verhängnis. Verderben. Fluch. Mondlicht. Blut.“
Entsetzt wollte Crysella aufspringen. Doch sie war nicht fähig, sich zu rühren, schien gekettet an das Rosenkissen. Blick in Blick mit der verrückten Hexe. Bestimmt hatte sie sie hypnotisiert. Oder wollte sie hypnotisieren. Willenlos machen. Ihre Stärke beweisen. Das durfte nicht sein.
„Alles Humbug“, sagte sie trotzig. „Fauler Zauber.“ Es gelang ihr, sich zu erheben. „Ich glaube dir kein Wort. Du scheinheilige Möchtegernhexe.“
Aus der Traum. Verflüchtigt der Zauber. Vanessa stand ebenfalls auf. Schweigend verließen sie das Heiligtum.

Wieder im Laden, zog Vanessa ein kleines, goldenes Kästchen unter dem Tisch hervor, klappte den mit Gold verzierten Deckel auf und entnahm dem Kästchen einen schwarzen Ring. Einen Ring aus Hämatit, der zur Hälfte mit einer goldenen Schlange verziert war. Die Schlange wand sich verführerisch um einen grünenden Zweig, der sich am Ende etwas in die Höhe reckte. Und ganz oben auf der Spitze steckte ein winziges, schwarzes Kreuz, verziert mit einem Diamanten.
„Der Ring der Lilith“, sagte Vanessa leise.
Erstaunt wich Crysella einen Schritt zurück. Wie kam Vanessa zu diesem Ring.
„Halt ihn in Ehren“, sagte Vanessa. „Den Ring der dunklen Mutter.“ Vorsichtig steckte sie den Ring der Lilith an ihren linken Ringfinger. „Soll er dich in die Abgründe deiner Seele führen und dir helfen, dich selbst zu erkennen.“

Wie in Trance verließ Crysella den unheimlichen Laden. Benommen lief sie durch die regennassen Straßen, legte sich zu Hause in ihr blaues Bett mit den goldenen Knöpfen am Bettgestänge und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag überfiel sie eine grenzenlose Traurigkeit. Eine die Sinne verwirrende Melancholie, aus der sie nicht herausfinden konnte. Am liebsten wäre sie gar nicht aufgestanden, hätte sich in die Kissen gekuschelt und den Tag verschlafen. Doch sie wusste aus Erfahrung, es würde nichts bringen. Sie würde nur grübeln über Dinge, die nicht zu ändern waren. Also setzte sie sich im Nachthemd vor ihren Geliebten, gönnte ihm jedoch keine Zeile. Sie wartete. Worauf. Sie wusste es nicht. Sie schaute versonnen aus dem Fenster, drehte spielerisch den Ring der Hexe.
Letzte Blätter wirbelten von den Bäumen. Eine Elster flog unruhig hin und her, setzte sich dann in die Spitze eines kahlen Lindenbaumes, verweilte.

Wo war draußen.
Drinnen.
Oben.
Unten.

Das Zimmer schien plötzlich seine Konturen verloren zu haben. All die längst Verstorbenen wurden lebendig an den weißen Wänden, bewegten stumm ihre übergroßen Münder. Ein Wispern und Flüstern begann. Ein Beten und Köpfe neigen. Und dann war alles in rotes Licht getaucht. Rauchwolken stiegen in einen dunklen Himmel. Flammen loderten ihm wild entgegen.
Sie erwachte auf einer Wiese zwischen Gänseblümchen und Butterblumen. Bienen summten auf den Blüten. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihre Nase, sie musste niesen. Da wurde der Himmel wieder dunkel.

Sie lag auf einem schwarzen Stein. Er war kalt. So kalt wie die Luft, die sie umgab.
Der Stein war ein auf den Kopf gestelltes schwarzes Kreuz.
Schwankend näherten sich ihr Gestalten in roten Kapuzenmänteln, lodernde Fackeln in ihren Händen. Andächtig schritten sie in einer Reihe hintereinander, sangen leise, wie beschwörend, eine Melodie, die ihr bekannt vorkam, sie an Schmerz erinnerte. Tränen. Tod.
„Nein!“
Sie wollte das alles nicht. Nicht noch einmal. Wie ein Tier verkroch sie sich in eine dunkle Ecke und beobachtete das Ritual.

Isis nahm ihren Platz auf dem Altar ein. Dem umgedrehten schwarzen Kreuz. Sie war wieder zum Kind geworden, nachdem sie Seth nach dem Vatermord nicht töten ließ.
Seth aber dankte es ihr nicht. Hatte sich stattdessen mit 72 Männern verschworen, um Osiris zu töten. Heimlich verschafften sie sich seine Körpermaße. Bald sollte wieder ein prunkvolles Fest statt finden und auf ihm die Schandtat geschehen. Sie fertigten einen schönen Schrein. Diesen ließen sie dann nach dem gemeinsamen Mahl in den Festsaal bringen.
„Wer da genau hinein passt“, sprach Seth, „bekommt ihn zum Geschenk.“
Natürlich wollten die schönen Recken in den wunderschön geschnitzten Schrein passen und versuchten es der Reihe nach, während die Damen in ihren Ballroben Beifall klatschten. Doch keiner hatte das rechte Maß.
„Osiris, mein Lieber, steig auch du hinein“, forderte Seht Osiris auf.
Da legte Osiris sich nieder in dem wundervollen Schrein und sagte:
„Dieser Schrein ist wie für mich gemacht. Also gehört er mir.“
Da eilten die Verschwörer herbei und nagelten schnell den Deckel fest. Dann gossen sie geschmolzenes Blei darüber, hoben den schönen Schrein auf und schafften ihn an den Fluss. Dort ließen sie ihn ins Meer treiben.
Isis aber war voll Trauer. Wochenlang suchte sie verzweifelt nach dem Schrein am Gestade des Meeres. In einer Vollmondnacht fand sie ihn endlich im kanaanitischen Byblos, öffnete mit letzter Kraft den Deckel und küsste ihren toten Geliebten und ihre Tränen tropften heiß auf sein bleiches Gesicht.

Seth, der ihr gefolgt war und bei Mondschein jagte, sah, was geschah. Er eilte zu ihr, wurde zornig und zerhackte voll Hass die Leiche seines Vaters in vierzehn Teile und verstreute sie in alle vier Winde.
Nun fuhr Isis traurig mit dem Kahn durch die Sümpfe. Nach langem Suchen fand sie dann nach und nach die vierzehn Teile des Osiris, die an verschiedenen Stellen entlang des Flusses verborgen waren. Sie grub sie mit ihren eigenen Händen aus und begrub sie an einem geheimen Ort.
Da stieg Osiris herauf aus der Unterwelt und suchte Horus, seinen zweiten Sohn, der ihn rächen sollte, und stärkte ihn für den bevorstehenden Kampf mit Seth.
Der Kampf dauerte vier Tage. Seth unterlag, wurde gefesselt und der Isis ausgeliefert, damit sie ihn töten ließe. Doch sie schickte ihn fort.
Diese Milde entfesselte den Zorn des Horus. Er riss seiner Mutter die Krone vom Haupt und stülpte ihr einen Helm mit einem Stierkopf über. Da wurde Isis zum Kind und weinte.

Ihr kleiner Körper war nackt, sie zitterte vor Angst und Kälte. Auch sie hatte schon andere Kinder auf dem schwarzen Stein liegen sehen. Auch sie hatte die Schreie gehört, das unterdrückte Stöhnen, den Dolch blitzen sehen, das Blut an ihm schimmern im hellen Schein des Vollmonds. Und sie wusste: Der Altar war zum Opfern da. Und jetzt war sie an der Reihe. Sie kam jedes Mal, wenn sie, Crysella, verschwand.

Mit weit geöffneten Augen starrte Isis in den Mond.
Sie durfte sich nicht bewegen, musste still halten, ganz artig sein. Sie war die Auserwählte. Tief atmete sie den rauchigen Duft des Feuers. Warmes Öl tropfte langsam auf ihren starren Körper, sie stieß einen langen Seufzer aus.
Die schwankenden Gestalten, deren angemalte Gesichter im flackernden Schein des Feuers nicht zu unterscheiden waren, wiegten sich im rhythmischen Tanz, wirbelten um Isis herum. Sie wartete. Nur das war ihre Chance.

Crysella spürte die Kühle der Nachtluft jetzt stärker. Auch sie zitterte. Auch sie war nackt.
Die kahlen Bäume wippten gespenstisch über den dunklen Gräbern. Der Mond war verschwunden. Der Gesang verebbt. Die tanzenden Gestalten in der Bewegung erstarrt.
“Ein Bastard soll nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des Herrn kommen.“ (fünftes Buch Moses, 23;2)
Der Hohepriester schritt langsam auf Isis zu. Er legte seine Hand auf ihre Stirn und murmelte:
„Geist der bösen Kleinen komm heraus. Verlasse diesen sündigen Leib. Diese abscheuliche Hülle. Lege dein Gelübde ab, dein Diener zu sein.“ Er salbte ihren nackten Körper, wickelte sie in weißes Linnen und hielt sie dann der wartenden Menge entgegen.
„Lasset die Kindlein zu mir kommen“, sagte er mit dröhnender Stimme, „denn durch sie ist das Königreich der Hölle.“
Die Menge antwortete im Chor:
„Gepriesen sei Satan. Denn er ist der Herr über alles. Er ist der Herrscher der Finsternis. Verdammt sei Gott. Denn er ist der Herr über nichts.“
Der Hohepriester brachte Isis zurück zum Altar, befahl ihr, aus dem Becher zu trinken, den er ihr hinhielt.
Gehorsam tat Isis, was der Hohepriester von ihr verlangte und trank den Becher in einem Zug leer.
Der Priester lächelte diabolisch. Er öffnete das Leinentuch, betrachtete Isis wohlgefällig und hielt plötzlich einen blinkenden Dolch in der Hand. Damit eröffnete er das teuflische Ritual.
Der Wein, den Isis getrunken hatte, machte sie schwindelig, umnebelte ihre Sinne. Und doch floh sie, als sie den ersten Schnitt des Dolches spürte, aus ihrem Körper.

Auf dem Altar lag jetzt Lilith. Ihre langen Locken umhüllten wie Feuer den Stein. Züngelten Schlangengleich um ihn herum. Die grünen Augen funkelten groß und dämonisch aus ihrem reglosen Gesicht.
Crysella war nicht überrascht, sie unter diesen mystischen Gestalten zu finden, deren starre Augen und angemalte Gesichter sie nicht zu schrecken vermochten. Und alles, was nun geschah, geschah auch ihr. Starr hockte sie in ihrem Versteck. Sie wusste, dass Lilith wusste: Etwas Schlimmes würde geschehen. Etwas überaus Grausames. Unmenschliches. Dämonisches. Doch sie war bereit. Deshalb war sie gekommen. Freiwillig. Sie, die Dämonin. Die dunkle Mutter. Die Königin der Nacht. Und der Schmerz und die Scham würden alles, wo auch immer sie sei, ihr nur allzu vertraut erscheinen lassen. Sie hatte keine Drogen erhalten, die ihre Reaktionen hätten abtöten können. Sie war hellwach. Und doch spürte sie nichts, als der scharfe Dolch ihr zwischen die Beine schnitt, das Blut heraus lief. Und sie schmeckte auch nichts, als der Priester ihr lächelnd ihr eigenes Blut zu trinken befahl. Und sie spürte noch immer nichts, als Männer und Frauen eindrangen in ihre geschändete Nacktheit.
Sie wusste, dass die Dinge, die da geschahen, wehtaten. Doch sie spürte keinen körperlichen Schmerz. Sie wusste: Die Handlungen waren beschämend. Doch sie fühlte keinen emotionalen Schmerz. Deshalb war sie gekommen.
Sie brachte sich selbst als Opfer dar.

Endlich waren die vermummten Gestalten es müde, sie zu quälen und wandten ihre Aufmerksamkeit einander zu, zogen sich erregt in Paaren vom Feuer zurück, um ihren eigenen Absonderlichkeiten zu frönen. Sie lachten und tanzten und tranken immer mehr Wein.
Dann legten sie ihre roten Wollkutten mit dem umgedrehten schwarzen Kreuz auf dem Rücken ab und vereinten, nackt, wie sie waren, ihre Körper in sinnlichem Rasen aus Blicken, Berührungen und Gerüchen.

Crysella erwachte im Dämmer des Morgens auf dem verlassenen Friedhof. Die mystischen Gestalten waren verschwunden. Nur der Mond hing noch am Himmel. Ungerührt. Und schon etwas verblasst.
Nur langsam fand sie zurück in die Realität. Sie hatte wohl geschlafen. Ihr Kopf lag auf der Schreibtischplatte. Also war alles nur ein Traum. Ja. Alles war wie immer.
Die Fotos hingen stumm an den Wänden. Der Totenkopf mit den Rosenblüten in seinen toten Augenhöhlen stand an seinem Platz neben dem Computer, der grünbronzene Liebesgott Osiris wie immer im Regal und der mit Stecknadeln gespickte Ricardo daneben.
Auch der Schreibtisch war unaufgeräumt. Und auf dem Bildschirm tanzten die Schmetterlinge.
Mit der Maus zuckte sie sie weg und erhob sich, noch etwas benommen, von ihrem spartanischen Stuhl, lief wütend im Zimmer auf und ab.
Was sollten diese verrückten Träume. Diese Verknüpfung von Lilith und den Figuren aus der altägyptischen Mythologie. Was hatte das Eine mit dem Anderen zu tun. Und als Höhepunkt zwischen all den ungereimten Dingen der Mond. Immer wieder der Mond. Der Vollmond.

Crysella lachte laut auf. Wie konnte man nur so wirres Zeugs träumen. Es wurde Zeit, dass sie ihre Doktorarbeit zu Ende schrieb. Dann würde wohl auch dieser verdammte Spuk endlich vorbei sein. Aber vorerst würde sie sich mit Rudi treffen. Das hatte sie ihm versprochen. Sie wollten seine Arbeiten noch mal durchgehen.
Es war schon spät. Sie ging ins Bad, sich für die Nacht fertig zu machen, legte sich dann in ihr Bett und schlief tief und traumlos.


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Fortsetzung folgt
 

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