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Keine Kindheit lang

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© Manfred ManfredJG   
   
Ich bin der Volkskrankheit Krebs im Laufe meines Lebens des Öfteren begegnet. Junge Erwachsene, Senioren oder mitten im Leben stehende Menschen waren in meiner Nähe betroffen und jeder Fall für sich ging mir sehr nahe. So auch die erste Begegnung in meiner Kindheit. Die Nachbarstochter, sechs Jahre alt, litt an Leukämie.


Zunächst begriff ich diese Krankheit nicht. Wunderte mich nur, dass die Leute ein sorgenvolles Gesicht machten. Erst, als ich mit 6 anderen Kindern zusammen den kleinen Sarg zu Grabe trug, verstand ich, was den anderen längst klar war. Susanne durfte keine Kindheit lang leben. Im Februar hatten wir noch zusammen Karneval gefeiert. Sie, ich und die Kinder unserer Nachbarschaft. Ich erinnere mich noch. Damals war ich ein Sheriff. Trug stolz meinen Stern auf der Brust und den Hut auf dem Kopf. Sie ging als Clown mit Hütchen und dickem Wintermantel. Ehrlich gesagt fehlte ihr die Schminke im Gesicht. Aber das war nicht so wichtig. Wenn sie schon nicht mit uns Rodeln gehen konnte, so doch wenigstens etwas feiern. Immerhin konnte man am Hütchen erkennen, das auch sie zum Karneval gehörte. Die großen Knöpfe ihres Wintermantels schauten wie Schneemannaugen in den Tag und alle zusammen sangen wir das Fastnachtslied. Wir sammelten Orangen, Schokolade und Geld an den Türen der Häuser.

Und dann war sie wieder verschwunden. Tagelang sah man nichts von ihr. Nur ihr Bruder spielte mit uns Cowboy und Indianer. So wurde es Frühling. Der sechste Frühling eines kleinen Lebens. Zu dieser Zeit wechselte meine Oma Wilhelmine die Welten und an ihrem Grab wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass das Leben endlich ist. Aber dass auch Susanne gehen würde, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Aus den Tagen wurden Wochen und so ging ich wie gewohnt beichten. Als geborener Katholik gehört sich das so. Immerhin sammeln sich mit der Zeit einige Vergehen an, die berichtet werden wollen. Nach meinem Part der Veranstaltung sprach mich unser Pfarrer von meinen Sünden frei und erlegte mir wie üblich die Buße auf. "Für die kleine Susanne betest du nun 5 Ave Maria" hörte ich seine Stimme sagen. Mein Kopf wollte den Sinn nicht recht verstehen. Aber ich tat, wie mir geheißen.

Der Sommer kam und mein Hund, der eine Namensvetterin von Susanne war, musste eingeschläfert werden, weil er immer die Maurer auf der Straße anbellte und biss. Es war der sechste Sommer im Leben von Susanne und ich war traurig über den Verlust meines Hundes. Noch war selbst für mich die Kindheit nicht zu Ende. Da sprach mich meine Mutter eines Abends an. "Morgen wirst du einen schicken Anzug anziehen und wir werden gemeinsam zur Beerdigung von Susanne gehen. Du sollst mit anderen Kinder ihren Sarg tragen." Zusammen mit den anderen Kindern taumelte ich in den nächsten Tag. Wir waren zu sechst, je drei auf einer Seite des kleinen Sarges, der nicht einmal eine Kindheit lang groß war vom Kopf bis zu den Füßen. Gedanken hatte ich keine, verstanden habe ich auch zu diesem Zeitpunkt nichts. Ich saß anschließend im Lokal mit allen Nachbarn und lächelt durch Kaffee und Kuchen in eine Welt, die noch vor mir lag. Susanne sah all das nicht mehr, was nach der Kindheit kommt.

Heute, wenn ich darüber nachdenke, wer alles in meinem Leben Welten gewechselt hat, beginne ich langsam zu begreifen, was damals geschah. Das Leid ihrer Familie, der Kampf, der nicht zu gewinnen war. Immer ist es das gleiche. Diagnose, Kampf, Leid, Tod. Einzig Susannes kurzes Leben macht einen kleinen Unterschied zu allen anderen Menschen, denen ein ähnliches Schicksal widerfuhr. Sie hatte nicht einmal eine Kindheit lang Zeit und der Karneval im Februar, die Beichte und der kleine Sarg sind alles, was mir als Erinnerung geblieben ist. Die Jahre danach ging ich oft ins Freibad in der Nähe der Gaststätte, in der wir bei Kaffee und Kuchen Abschied nahmen. Das Leben war einfach schön zu dieser Zeit. Es war meine Kindheit.
 

http://www.webstories.cc 02.05.2024 - 15:32:51