... für Leser und Schreiber.  

… oder einfach mal auf IneS hören (Teil 4)

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©  Middel   
   
Langsam wurde die Zeit knapp. Wieder ohne Ticket durch die City? Oder die olle Nachbarin suchen? Taxi nehmen und dann türmen? Oder die olle Nachbarin suchen? Astrids Sportjuwel bitten, mich zu fahren? Oder die olle Nachbarin suchen? In meinem Kopf versuchte ich mir krampfhaft Lösungen auszumalen, die nichts mit der Eierlikörtussi zu tun hatten. Aber irgendwie lief alles auf eine finale Konfrontation hinaus. Wie im Kino:
High noon, zwei einsame Cowboys stehen sich zum Duell auf dem Dorfplatz gegenüber.. Es ist glühend heiß und er spärliche Wind weht ängstlich das Gestrüpp (oder auch Steppenläufer, auf englisch: tumbleweeds – das hab ich ausnahmsweise mal nicht von Astrid;) durch die Prärie. Eine traurige Orgelmelodie kündigt ein Duell auf Leben und Tod an. Der Kirchturm läutet ein letztes Mal, als Sheriff … fuck, ich schaue definitiv zu viele alte Western.

Zurück zu meinem eigentlichen Problem. Warum hatte der Vollidiot den Schlüssel dieser alten Schabracke ausgehändigt? Eventuell fertigt die sich grad nen Zweitschlüssel an und schleicht sich demnächst heimlich in meine Wohnung, wenn ich in der Uni sitze oder so. Womit hatte ich das verdient? Obwohl, wer sagte denn, dass sie den Schlüssel überhaupt mitgenommen hatte? Die ehemalige Lehrerin war ja so hyperkorrekt und hatte den Schlüssel garantiert an ihrem Haken im Flur hängen. Na ja, da hing er jetzt gut.

Als mir nach mehrmaligem intensivem Überlegen nichts anderes mehr einfiel, als zu kapitulieren und meine Eltern anzurufen – was ich nur in absoluten Notsituationen überhaupt in Erwägung ziehe – spielte mir das Schicksal zum ersten Mal an diesem Tag in die Hände. Da hatte die trinkende Expädagogin doch tatsächlich ihr Küchenfenster aufgelassen. Also in jedem Fall zu tief ins Glas geschaut die Alte. Wie kam ich da bloß rein, ohne bemerkt zu werden?

„Ich muss völlig bescheuert sein“, schrie es in mir und ich war mir hundertprozentig sicher, dass das kein gutes Ende nimmt. Von einem Ast herab schwingend versuchte ich doch tatsächlich möglichst unauffällig durch das offene Fenster meiner Nachbarin zu gelangen. Glück für mich, dass hier gegen Mittag nie viel los ist und ich so eine zumindest akzeptable Chance hatte, ungesehen in die Wohnung zu gelangen. Pech, dass ich mich irgendwie mit dem linken Hosenbein im Ast verhedderte und mit dem Kopf erst auf der Fensterbank aufkam und dank der Schwerkraft dann geschätzte zwei Meter ins nichts fiel, bevor mich eine Dornenhecke ein wenig abbremste.
Auf allen Vieren und völlig resignierend aus dem Gebüsch kriechend, konnte ich, noch völlig benommen, zwei äußerst unansehnliche Füße in ausgelatschten Damenschuhen erkennen. Oberhalb der Füße ging es mit zwei unattraktiven und von einer widerlichen Strumpfhose nur mäßig in Zaum gehaltenen Orangenhautbeinen weiter. Den Rest kannte ich und als ich langsam meinen Brummschädel weiter himmelwärts streckte, wusste ich, dass ich nicht falsch lag.

„Wie kommen Sie denn in dieses Gebüsch?“, ertönte es mit einem viel zu grellen Unterton und ich – immer noch kniend und auf meinen Ellbogen gestützt – richtete mich jetzt langsam auf, um dieser Plage von einer Nachbarin gehörig eins vor den Latz zu knallen. Doch noch bevor ich überhaupt komplett aufgestanden war, wurde es erst einmal schwarz.

Was jetzt folgte, muss ich mir im Nachhinein zusammenreimen, da mir daran jegliche direkte Erinnerung fehlt. Ich nehme mal schwer an, dass meine grenzdebile Nachbarin im alkoholisierten Zustand die Feuerwehr, den Grenzschutz, die Unicef, das BKA und wer weiß wen noch alles angerufen und in ihrer Panik natürlich total übertrieben hat. Zusätzlich wird sie die halbe Nachbarschaft zusammen geschrien und irgendwas von „schwer verletzt“ krakeelt haben.
Jedenfalls wurde ich wach, als ein gutes Dutzend (ich leg mich da jetzt nicht genau fest) Krankentransporter, Feuerwehr-, Polizei- und diverse andere Einsatzwagen mit lautem Getöse in unsere beschauliche Straße einbogen. Kaum ist man mal 'ne Zeit unpässlich, ruft die Weithmannreuter-Lippgenstein den gesamten Fuhrpark der Stadt. Die paar Nachbarn, die bis dahin noch nicht am Fenster standen oder sich bereits auf zum Ort des Geschehens machten, waren spätestens jetzt informiert und verwandelten die einst so angenehm ruhige Siedlung in einen Vorhof zur Hölle.

Da ich jetzt wieder bei Bewusstsein war, holte ich auf dem schnellsten Wege nach, was ich schon vor ein paar Minuten hatte erledigen wollen.
„Sagen Sie mal Frau Weithmannreuter-Lippgenstein, ich glaub gleich rappelt's im Karton - aber ganz derbe. Was fällt Ihnen ein, hier die komplette Notstandsituation auszurufen und alle hiesigen zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte herzubeordern? Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, was ich heute schon alles habe durchmachen müssen?“ Der Blick meiner Nachbarin wechselte ständig zwischen verwirrt und verängstigt. „Ich hab die Faxen langsam dicke. Jeden Tag stehen Sie am Fenster und warten nur darauf, dass es irgendwas zu beanstanden gibt. Ob einer die Mittagsruhe nicht einhält, ob er ein Kaugummi in den Garten wirft oder seine GEZ-Gebühren nicht zahlt. Mein Gott, so alt sind sie nun auch wieder nicht, als dass sie nur das Leben der Anderen interessieren kann. Lassen Sie es sich mal wieder richtig besorgen, dann klappt's auch mit den Nachbarn.“ So lange am Stück war sie noch nie zuvor still geblieben. Meine Ausführungen müssen Wirkung gezeigt haben. „So und jetzt geben Sie mir meinen Schlüssel, sonst raste ich gleich vollends aus!“ „Den hab ich nicht“, war das Erste, was sie wieder sagte und ich stand fassungslos inmitten einer sich bildenden Menschentraube und hörte, wie hinter mir die ersten Einsatzwagen mit quietschenden Reifen hielten.
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 19:44:38