... für Leser und Schreiber.  

Sie nannten ihn das Weib

25
25 Stimmen
   
© Homo Faber   
   
Er war schon immer eitel. Schon in der Kindheit unterschied er sich damit von den anderen Jungs. Während in der Grundschule für seine Klassenkameraden schon das Kämmen eine nervige Last war und diese am liebsten ungekämmt das Haus verließen, mussten seine Haare immer perfekt sitzen, und wenn sich über Nacht vom Liegen ein Haarberg gebildet hatte, wurden sie nass gemacht, bis sie lagen wie sie liegen sollten.
Nach der Grundschule wechselte er die Frisur. Anstatt sie einfach nach vorn gekämmt zu tragen, kam nun eine Stehhaarfrisur auf den Kopf. Nur noch selten war die Frisur am nächsten Morgen noch so wie am Vortag, so brauchte er noch mehr Zeit um sich zu frisieren. Später begann er aber jeden Morgen vor der Schule zu duschen, so waren die Haare nass und konnten schneller frisiert werden. Aber dafür brauchte er wieder mehr Zeit für das Duschen. Und außerdem mussten die Haare gefönt werden, und wenn nach dem Vorgang nur ein Haar nicht so saß, wie es sitzen sollte, duschte er noch einmal und wiederholte den Vorgang. Natürlich kam er nicht selten zu spät zur Schule. Auf die Frage, warum er sich verspätet habe, zeigte er keine Scheu und gab den wahren Grund an. Schon bald hatte er seinen ersten Ruf weg. „Das Weib“, nannten sie ihn.
Er war im Fußballverein. Aber viel Leistung konnte er in seinem Team nicht bieten. Denn sobald mal ein Ball über seinem Kopf flog, was einen Luftzug hinterließ, rannte er aufs WC, um nachzusehen, ob seine Haare noch liegen. Und gegebenenfalls machte er sie nass, um sie zu formen.
Als er erwachsen wurde, genügte es ihm nicht mehr, wenn nur seine Haare richtig saßen. Er hatte gehört, dass sich mit 25 schon die ersten Falten sichten können und so schaffte er sich eine Pflegecreme an und cremte sich nach jedem Duschen ein. Bald genügte ihm das einmalige Eincremen pro Tag nicht mehr und nutze auch vorm Schlafen gehen die Creme. Einmal in der Woche kam noch ein Peeling hinzu und vor dem Eincremen des Gesichts wurde es gründlich mit Gesichtswasser gereinigt. Und Freitag abends gönnte er sich nach dem Wochenstress eine Quarkmaske.
Die ersten grauen Haare durfte natürlich niemand sehen, so deckte er diese alle paar Wochen mit einer Tönung ab. Dass mit Ende 30 seine Haare vorne begannen lichter zu werden fiel zum Glück zunächst nicht auf, da seine jugendliche Frisur, die ihn fünf bis zehn Jahre jünger machte die angehende Stirnglatze versteckte. Mit Mitte 40 begann sein Haar aber auch hinten und oben lichter zu werden, so dass es sich durch Kämmen nicht mehr verstecken ließ. Eine Eigenhaartransplantation musste her, diese konnte er sich aber nicht leisten, da er vor Jahren seinen Job verloren hatte, da er während der Arbeitszeit nur mit seinem Aussehen beschäftigt war.
„Na ja, vielleicht sollte ich einfach mal ein Mann werden“, überlegte er. Und anstatt zu einem Wundermittel zu greifen, das seine Haare wieder wachsen lassen sollte, griff er zur Schermaschine und stutze sein Haar auf 9 mm. So brauchte er sich nicht mehr zu frisieren und das Tönen ließ er auch sein.
Bald feiert er seinen 60. Geburtstag, seine Haare sind nun weiß und oben drauf vollständig ausgefallen, um besser zu sehen, trägt er eine Brille anstatt Kontaktlinsen und die Falten sehen ihm auch gar nicht so schlecht. Dafür ist er wieder erfolgreich im Job und freut sich, bald in Rente zu gehen.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 07:29:47