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Das Weiße Königreich - Kapitel 6

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©  Alexander   
   
Die Hoffnung wurde nach den ersten Metern in der Mine jäh begraben, als sie auf die ersten Leichen trafen. Danach folgte Leiche um Leiche. Alle hatten Hieb und Stichwunden. Die Schussbolzen in den Körpern stammten eindeutig von samoanischen Schützen.
Dem einen oder anderen fehlten Gliedmaßen. Überall war Blut. An den Wänden, auf dem Boden und teilweise sogar an den Decken. In den Stollen hatte ein ungleicher Kampf stattgefunden, soviel stand von vorne rein fest.
Als sie auf eine Gruppe von Fünf Leichen stießen, konnte der Junge Ramon einfach nicht mehr. Er übergab sich. Bei einer Leiche handelte es sich um Schwester Helena. Sie hatte sich vor eine Gruppe Kinder gestellt, um sie vor den Samoanern zu schützen. Dass Dumme war nur, die Söldner waren nicht für ihre Gutherzigkeit bekannt. Sie machten selten einen Unterschied zwischen den Geschlechtern und dem Alter. In der Waisenmine waren sie äußerst brutal vorgegangen. Etwas zu brutal für Michaels Geschmack.
Der Anblick war für alle Beteiligten nicht ohne. In der Mine hatte ein Massaker stattgefunden. Die Leute waren chancenlos gewesen.
Sie teilten die Gruppe auf. Hauptmann Raul und seine Männer nahmen sich den Südflügel der Mine vor. Baldami, Kronos, deren Schützlinge und Wong suchten im Nordflügel. Michael, Sirka und Erol nahmen sich den Westflügel vor.
„Michael.“, rief Erol.
Kinder jeden Alters waren den Samoanern zum Opfer gefallen. Vornehmlich die Jugendlichen hatten versucht den Angreifern Parole zu bieten. Ohne Erfolg. Gegen die kampferprobten Söldner hielten selbst erfahrende Männer und Frauen kaum stand.
Michael betrat einen Raum. So wie er eingerichtet war, handelte es sich um einen Arbeitsraum. In den Regalen standen unzählige Bücher, Papierrollen und Gegenstände. Der Raum war bisher der Größte, den sie in der Mine inspiziert hatten.
In einem alten Stuhl mit hoher Lehne saß ein älterer Mann. In seiner Brust steckten Drei Schussbolzen. Keinen Schritt von ihm entfernt lag ein Breitschwert. Eine beliebte Waffe der Menschen. An der Klinge klebte verwischtes Blut.
Michael fand zwei verwischte Blutlachen. Demzufolge hatte der Mann Zwei Angreifer getötet, bevor man ihn tötete. Ihm war auch auf Anhieb klar, wer der Mann in dem Stuhl war. Magistrat Frederick.
Sein Anflug von Trauer war kurz. Die Sache mit dem Blut ließ nicht mehr los. Da war etwas merkwürdig. Warum verwischte jemand das Blut an der Schwertscheide und auf dem Boden? Michael kniete sich vor die Blutlachen. Er befeuchtete seinen Zeigefinger, fuhr über die Blutlache und roch an seinem Finger.
Das Blut stammte nicht von Menschen. Der Geruch stimmte einfach nicht. Menschenblut hatte einen kupferhaltigen Geruch. Jenes Blut an seinem Finger roch unterschwellig nach Fett und Öl. Bei Zwei Volksgruppen roch das Blut so; Orks und Urikais. Ersteres schloss Michael so gut wie aus. Demzufolge blieben nur die Urikais. Eine Wendung, deren Ausgang im Dunklen lag.
Ein leises husten ertönte.
Sirka und Erol verharrten. Michael sah seine Freunde an. Ein Ork hustete anders und Erols Blick reichte aus. Von ihm kam das Husten nicht. Demzufolge war noch jemand im Raum. Die Frage war bloß wo.
Michael erhob sich, ging in die Mitte des Raums und sah sich um. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ihr könnt rauskommen.“
Stille.
„Wir haben Samuel und Ramon hierher begleitet. Ihr braucht keine Angst vor uns zuhaben. Wir tun euch nichts.“, sagte er.
Knirschen ertönte. Danach wieder ein leises Husten. Dazu kam schluchzen. Einige Augenblicke verstrichen in denen nichts geschah.
Eine Regalwand verschob sich kaum. Sekunden vergingen, bis die Regalwand weiter geöffnet wurde. Dahinter lag eine verborgene Kammer. In hier hielten sich ein Dutzend Kinder jeden Alters auf. Eine Frau in einer Kutte, wie sie die Frau im Stollensystem trug, trat als Erste hinaus. Hinter ihr kauerten sich die Kinder zusammen. Unschlüssig sah die Frau von Sirka zu Erol und dann zu Michael.
Die Ordensschwester sah blass aus. Kein Wunder bei den Vorkommnissen. Beim Anblick des Magistrats kamen ihr die Tränen. Stumm bekreuzigte sie sich und sprach für den Mann ein Gebet.
„Wo sind sie?“, fragte sie vorsichtig und beäugte Sirka und Erol.
Michael machte einen Schritt auf sie zu. „Sie suchen mit Zwei Zwergen und einem Freund von uns den Nordflügel ab.“
Falls die Ordensschwester ihm misstraute, zeigte sie es nicht. Die Körperspannung wich Erleichterung.
„Was ist passiert?“, fragte Michael vorsichtig.
Trauer erschien in ihrem Gesicht. Vor allem in den Augen sah man noch den Schrecken der Ereignisse, welche in der Waisenmine gewütet hatten. Sie ließen ihr soviel Zeit, wie sie brauchte.

***
Um den Kindern den Anblick des Magistrats zu ersparen, war man in ein Raum gewechselt wo alles so war wie vor den schrecklichen Stunden. Da die Kinder sich sichtbar unwohl in Sirkas Nähe fühlten, übernahm Erol die Betreuung. Zusammen mit Sergio und Bernardo räumten sie die Stollen von den Leichen weg.
Samuel und Ramon befanden sich mit im Raum, zusammen mit ihren Leibwächtern. Wong gesellte sich zu Erol.
Schwester Maria atmete tief ein, sah zu den beiden Freunden und kehrte wieder zu Michael und Raul zurück. „Es ging alles ziemlich schnell.“, sagte sie und stockte. „Schwester Helena trug mir auf die Kinder zum Arbeitsraum des Magistrats zu bringen und mich dort mit ihnen in der Kammer zu verstecken.“ Wieder hielt sie inne. „Auf dem Weg haben wir den Magistrat getroffen. Er brachte uns in sein Arbeitsraum. Gerade als wir das Regal schlossen, kamen Zwei Urikais herein.“ Überrascht sah Raul Michael an. Schwester Maria machte eine kleine Pause. Die Tränen kamen zurück.
„Es gab einen Kampf!“, erleichterte Michael die Sache für die Frau.
Sie nickte, wischte die Tränen weg und blickte zu den Kindern. „Ein Dritte tauchte auf einmal auf und tötete ihn.“ Schwester Maria schloss die Augen. Weitere Tränen kullerten die Wangen herab. „Dann hat ein anderer Urikai den Dritten umgebracht.“
Jetzt war auch Michael erstaunt.
„Haben sie mit bekommen wieso?“, wollte Raul wissen. Eine berechtigte Frage. Der Zeitpunkt mochte unglücklich gewählt sein.
„Sie…“ Schwester Maria atmete tief ein und aus, wischte sich die neuen Tränen weg und straffte ihre Körperhaltung. „Sie wollten ihn lebend.“

***
Der Dritte Schussbolzen hatte sich durch den Körper des Magistrats in die Lehne des Stuhls gebohrt. Daraus ersah Michael, dass der Schütze nah vor dem Mann gestand, hat. Demnach musste der Magistrat noch gelebt haben. Wenn er die Schussbolzen genau betrachtete, war die Position von zweien nicht zwangsläufig tödlich. Der letzte Schussbolzen hingegen hatte das Herz durchbohrt.
Die Urikais schienen strikten Befehl zu haben ihn lebend zufangen. Was der Tod des Schützen durch den Truppführer deutlich machte. Es war also kein Zufall. Dass musste dem Magistrat klar gewesen sein. Zwar war die medizinische Versorgung bei den Urikais nicht gerade erstklassig aber an den Wunden zweier Schussbolzen wäre er wohl nicht gestorben.
Darum konnte es für den dritten Schuss nur einen Grund geben. Sein Respekt dem Magistrat gegenüber wuchs. Er hatte den Schützen provoziert. Was auch immer er in Erfahrung gebracht hatte, niemand sollte von seinem Wissen profitieren. Schon gar nicht Urikais.
Michael hingegen vermutete jemand anderes hinter der Aktion. Ein Grund war das neue Bündnis zwischen Alben und Urikais. Das sah viel zu sehr nach den Alben aus, als nach ihren Verbündeten. Sie neigten nicht dazu Gefangene zu machen.
„Zhu di ha do.“, sagte Wong.
Michael sah ihn an. Er nickte. Wong neigte knapp den Kopf und verschwand wieder. Obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, was ihr ausländischer Freund sagte, neigten sie stets dazu zu nicken oder ihn verständnislos anzusehen. Mit einem schmunzeln wandte sich Michael wieder dem Magistrat zu. Dabei sah er dessen Breitschwert. Beim Begutachten entdeckte Michael etwas was er nicht erwartet hatte. Überrascht sah er den Magistrat an. Jetzt wurde ihm klar, wie der Mann 2 Urikais töten konnte.

***
Schwester Maria hatte für die Kinder warme Kleidung zusammen gesucht. Man beschloss sie zu den Zwergen zu bringen. Dort waren sie sicher. Es war zwar zu bezweifeln das sie weiter in Gefahr schwebten aber sicher war sicher. Urikais neigten nämlich nicht dazu umzukehren, um Zeugen aufzuspüren und umzubringen.
So gerne alle die Verfolgung aufgenommen hätten, vor allem die Zwerge und Sirka, stand die Sicherheit der Kinder, der Freunde und Schwester Maria an Erster Stelle. Das Zwergenreich der Siebten erschien ihnen am sichersten. Für den Fall der Fälle. Die in der Nähe liegenden Stadtstaaten konnten einem Trupp Urikais nichts Nennenswertes entgegensetzen.
Keiner erhob irgendwelche Einwände, also marschierten sie zum Zwergenreich der Siebten. Der Heimat von Zwergenkönig Balthasar.

***
Seine Wut gegenüber To’rok, einem der Armbrustschützen, blieb nachdem er ihm das Breitschwert in den Leib gerammt hatte. To’rok kannte ihre Befehle. Dennoch hatte er den Menschenmann getötet, im vollen Wissen, das sie anderslautige Instruktionen hatten. Die daraus resultierende Konsequenz war To’rok Tod. Hätte R’ak ihn nicht getötet, hätte es Heerführer Z’aka getan. Und ihn wahrscheinlich dazu.
Noch immer erschloss es ihm nicht, wieso sie den alten Menschenmann entführen sollten und niemand sonst am Leben bleiben, sollte. Ihr Blutdurst mochte für den Moment gestillt sein. Die Kampfeslust hingegen blieb unerfüllt. Kinder und Jugendliche umzubringen, hatte nichts mit Kämpfen zu tun. Das kurzlebige Massaker konnte keinen Kampf mit ausgebildeten Soldaten ersetzen. Genau danach sehnten sich seine Männer und er.
Das Tala Gebirge war längst hinter dem Horizont verschwunden. Als die Nacht hereinbrach, trabten die Urikais weiter durchs weitläufige Land von Eurasien.
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Ende, Kapitel 6
© by Alexander Döbber
 

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