... für Leser und Schreiber.  

zerrissen

92
92 Stimmen
   
© Nakita Kallehave   
   
Der letzte Sonnenschein des Tages, Hand in Hand mit dem steten Rascheln der Blätter der Laubbäume. Amseln, Mönchsgrasmücken sowie auch Blau – und Kohlmeisen zwitscherten ihre Melodien in den Wald hinein. Es herrschte eine heitere Harmonie. Wie an jedem Tag. Damals zumindest.
Dann – ein Geräusch, als würde ein Regentropfen auf die Erde fallen. Sofort herrschte Stille. Man konnte geradezu sehen, wie das Schaudern einen Baum nach dem anderen ergriff.
Es war eine Träne. Das wussten alle im Wald.
Und erst jetzt, wo Stille eingetreten ist, hörte man ein leises Schluchzen. Vorsichtig blickten die Augenpaare in die Richtung, aus der die Töne kamen. Da war eine junge Frau in einem dunkelgrünen, zerrissenen Kleid und einem roten Samtbeutelchen, das sie sich um die Taile gebunden hatte. In ihrem tiefroten, zerstruppten Haar hingen kleine Äste und Blätter. Sie sass auf dem Boden, hatte die Beine angewinkelt und die Stirn auf die Knie gelegt. Eine quälend lange Flucht lag hinter ihr, soviel war klar.
Ihr in der Abendsonne sanft schimmernder Körper war mit Schnitten überseht. Blut lief ihr langsam an den Beinen und an ihrer Wange herunter. Meine Seele blutet, dachte sie traurig. Trotzdem gewann sie wieder etwas Fassung und nahm ihren geliebten Kräuterbeutel in die noch zitternden Hände. Aus diesem nahm sie ein paar Pflänzchen, mit denen und mit etwas Wasser sie auf einem Stein eine grobe Salbe machte, die sie sich auf die Schnitte reibte.
Es wurde dunkel. Sie suchte Schutz zwischen ein paar jungen, eng beieinanderstehenden Buchen, bevor die vollkommene Schwärze ihre Augen erblinden liess.
Noch immer war es ruhig im Wald. Alles Leben spürte, dass etwas anders war, dass etwas nicht stimmte, sich verändert hat. Und ihr Gespür wurde bestätigt, als vom Waldrand her plötzlich ein flackerndes, tanzendes Licht diesen Teil des Waldes durchflutete. Jemand hatte ein Feuer gemacht, ein riesiges, wie es schien. Jetzt Schreie. Schreie voller Schmerz. Viele Minuten lang. Von Schrecken erfüllt krabbelte die Frau weiter in die Baumgruppe hinein, stets darauf achtend, dass die Wunden den Boden nicht allzu sehr berührten.
Eine Ewigkeit, so schien es ihr, zerrissen die Schreie die Stille des Waldes, wie tollwütige Höllentiere, bis beinahe wieder Stille herrschte.
Abermals benetzte eine Träne den Waldboden.

Man schrieb das Jahr 1272.
Die erste Hexenverbrennung hatte stattgefunden.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 01:01:59