... für Leser und Schreiber.  

Augenblick

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© Nakita Kallehave   
   
Es regnet in Strömen. Pitschnass stehe ich an einer Tramhaltestelle und muss vor Kälte zitternd mit ansehen, wie ein Tram nach dem anderen an mir vorbeirattert. Hält ein Tram, so steigen die Menschen rasch mit ungeduldigen, hastigen Schritten aus. Man sieht ihren Gesichtern an, dass auch ihnen das schlechte Wetter, welches seit bereits 3 Tagen herrscht, so langsam ziemlich gegen den Strich geht.
Schnell entfernen sich die Menschen voneinander, um einen Platz für das Öffnen ihrer Regenschirme zu ergattern, die mit verschiedenen Farben die graue Stadtwelt zu verschönern versuchen. Wie ein Maler, der einem schwarz weiss Gemälde farbige Punkte verpasst, geht es mir durch den Kopf. "Die Farben machen inzwischen auch nicht mehr viel aus, hm?", murrt ein alter, gebrechlich aussehender Obdachloser hinter mir, dessen Blick dem meinem gefolgt sein musste und dessen blass blauen Augen nun starr auf mich gerichtet sind. "Stimmt", murmle ich überrascht, nicht genau wissend, was ich sonst hätte erwidern sollen.
Wieder hält ein Tram vor mir und wieder ist es nicht das, auf das ich warte. Die Türen schwingen ruckartig auf, worauf hin sich die Regenschirmprozedur aufs Neue wiederholt.
Gelangweilt werfe ich einen Blick ins Innere des vor mir stehenden Waggons; da, ein wohlbekanntes Gesicht aus alten Zeiten. Ein glockenhelles Gelächter zweier Mädchen tritt in mein Gedächtnis. Eine verschwommene Erinnerung an einen längst vergangenen Tag kommt mir in den Sinn. Kinder waren wir, die jeden Tag genossen. Wir rannten über eine Wiese - es war ein Wettrennen. Die Sonne brachte die Schönheit der Natur zum leuchten. Diese Erinnerung bringt mich zum lächeln. Auch das Gesicht im Traminnern strahlte auf einmal.
Zögerlich legt die junge Frau eine Hand auf die beschlagene Innenseite des Tramfensters. Ich verstehe und mein Lächeln wird mit einem Mal breiter. Schnell lege ich meine Hand auf die nasse Aussenseite der Scheibe, gleich der ihrer gegenüber. Wie damals, vor Jahren...
Plötzlich erklingt ein lautes, mechanisches Geräusch und das alte Tram setzt seinen Weg fort. Der Abstand zwischen unseren beiden Händen wird sofort mit jeder Sekunde grösser, bis ich die meine schliesslich vom Tram nehmen muss. Die Frau wirft noch einen letzten funkelnden Blick über ihre Schulter. Immer noch beherrschte ein grosses Lächeln ihr junges Antlitz.
So lange ist es her, so gross ist der Abstand zwischen uns wieder geworden. Ich glaube einen Abdruck ihrer Hand auf dem Fenster zu erkennen, nachdem auch sie die Hand von der Fensterscheibe genommen hatte. Diesen Abdruck wird es nicht mehr lange geben, denke ich, aber unser Lächeln bleibt, wenn auch nicht immer für alle sichtbar.
 

http://www.webstories.cc 19.05.2024 - 13:08:54