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Der Diebstahl

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©  Geminus   
   
Gottlob Pfilzer stand mit offenem Mund vor den leeren Stahlkrampen. Gestern Abend noch ruhte auf ihnen das Prunkstück seiner Sargkollektion, der mit vergoldeten Beschlägen und aus massivem Eichenholz gefertigte Schrein „Alpenschlaf“. Dass ausgerechnet das Vorführmodell gestohlen worden war, ließ die ohnehin schon blasphemische Tat eines Sargdiebstahls noch abstruser werden. Pfilzer ließ die schwarze Ledertasche, in der sich sein Frühstück und ein obskures Männermagazin befanden, neben sich auf den Boden gleiten. Dann durchquerte er eilig den Ausstellungsraum und betrat durch eine Zwischentür das Sarglager, welches sich im hinteren Teil seines Beerdigungsgeschäftes befand. Sauber aufgereiht standen hier jeweils sechs bis zehn Kopien der Ausstellungstücke und harrten geduldig ihrer Verwendung. Pfilzer zählte jedes einzelne Stück einer Modellreihe durch und stellte beruhigt fest, dass nicht eines fehlte. Vor dem Stapel mit Oberteilen des Modells „Alpenschlaf“ blieb er stehen. Heiße Wellen von Angst und schlechtem Gewissen durchliefen den Körper des unscheinbaren Mittsechzigers. Nervös strich er sich über die Glatze seines Hinterkopfes, die nicht nur zufällig der Tonsur eines Mönches ähnelte. Nur einem Fachmann wäre aufgefallen, dass jeder einzelne der hier lagernden Särge nur eine gut gemachte, aber billige Kopie der teuren Vorführmodelle im Ausstellungsraum war.
Das, was den Hinterbliebenen als massive Eiche oder Zedernholz angepriesen wurde, bestand in Wirklichkeit aus einfacher Kiefer und war lediglich mit einem dünnen Furnier versehen. Durch einen Zufall war Pfilzer auf die Idee gekommen, als er versehentlich einen billigen mit einem teuren Schrein verwechselt hatte und es bei der Beisetzung niemandem aufgefallen war. An jedem ersten Dienstag im Monat fuhr er mir seinem Kleintransporter über die österreichische Grenze zu einer Schreinerei und füllte sein Lager mit den eigens für ihn angefertigten Plagiaten auf. „Wer wird schon geschädigt?“, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Ob ein teurer oder billiger Sarg im Krematorium verbrannt wurde oder sieben Fuß unter der Erde vor sich hinfaulte. Den Hinterbliebenen blieb das gute Gewissen, den Toten standesgemäß beigesetzt zu haben, und ihm mittlerweile ein hübsches, zusätzliches Sümmchen. Aber warum hatten die Diebe nicht gleich einen Sarg aus dem Lager entwendet? Und überhaupt, was wollte man mit ihm anfangen? Waren einige von den schwarz gekleideten Irren, über die er in letzter Zeit vermehrt in den Zeitungen las, in sein Geschäft eingebrochen? War sein Prunkstück zum zentralen Bestandteil von schwarzen Messen oder sonstigen diabolischen Riten geworden? Oder, was noch viel schlimmer war, hatte jemand herausbekommen, was er hier trieb, und mit dem Diebstahl des teueren Originals eine klare Botschaft an ihn adressieren wollen?
Er zerbrach sich den Kopf, aber es gab lediglich zwei Personen, die von seinen kleinen Betrügereien wussten: Der österreichische Lieferant und sein langjähriger Gehilfe Alfred. Der Schreiner konnte kein Interesse an einem Diebstahl haben und Alfred, ein unscheinbarer Mann mit einfachem Gemüt, besaß keinen Mumm für solch ein Unternehmen. Keinen Tag länger würde er ihn weiter beschäftigen, wenn ihm auch nur ein einziges Wort über die Lippen käme. Mit seinen sechsundfünfzig Jahren wäre er umgehend ein Fall fürs Sozialamt. Was er als besonders ärgerlich betrachtete, war der Umstand, das er für den gestohlenen Sarg nun ein teures Original nachbestellen musste.

Drei Tage vergingen, an denen Pfilzer in der Nacht keine rechte Ruhe fand. An einem Freitagmorgen war die Beerdigung eines stadtbekannten Obdachlosen angesetzt, der am Anfang der Woche erfroren unter einer nahe gelegenen Innbrücke gefunden worden war. Für Pfilzer war es kein wirkliches Geschäft, ihn unter die Erde zu bringen, aber ein Armenbegräbnis abzulehnen, kam unter der Bevölkerung und bei der Verwaltung nicht wirklich gut an. Zwei Tage hatte der Tote in einem billigen Fichtensarg aufgebahrt gelegen, ohne dass jemand von ihm hatte Abschied nehmen wollen.
Am Morgen der Beerdigung öffnete Pfilzer durchnächtigt und schlecht gelaunt die Tür zum Aufbahrungsraum drei der Kapelle am Waldfriedhof.
„Verdammt, diesem Friedhofswächter muss dringend mal der Marsch geblasen werden“, dachte er verärgert, als er den in ihr befindlichen Sarg betrachtete. Der Tote musste ohne sein Wissen in eine andere Kammer verlegt worden sein. Nacheinander öffnete er die anderen Räume, aber nirgends war etwas von dem schlichten Fichtensarg zu finden. Ratlos kehrte er in Raum drei zurück und ließ seinen Blick über den aufwändigen Eichensarg gleiten. An den glänzenden Beschlägen verharrte er ungläubig. Das war eindeutig das Modell „Alpenschlaf“. Pfilzer trat fassungslos an den Sarg heran und hob den Deckel ab. Auch jetzt noch schlug ihm ein schwacher Geruch von billigem Fusel entgegen. Der Mann in dem Schrein war der Stadtstreicher Walter Priesner. Pfilzer war ratlos. Er hatte mit angesehen, wie sein Gehilfe Alfred ihn für die Ewigkeit präpariert und anschließend, auf seine Anweisung hin, in die billigste Holzkiste gelegt hatte, die im Lager zu finden war.
„Gib dir keine solche Mühe mit dem Penner“, hatte er Alfred noch angewiesen, als dieser versuchte, den Mann so zurechtzumachen, wie es einem jeden Menschen vor der Beerdigung zustand.
„Den will so und so niemand mehr sehen.“ Alfred hatte ihn mit seinem unergründlichen Blick angesehen und weitergemacht.
„Bilde dir aber nicht ein, dass ich dir die Überstunden bezahle“, hatte er ihm noch zugerufen, war in seinen Benz gestiegen und nach Hause gefahren.
„Und jetzt liegt dieses Subjekt in dem teuersten Sarg, den ich zu bieten habe“, dachte Pfilzer erbost. Wütend stemmte er den schweren Deckel wieder auf das Unterteil, drehte sich um und wollte aus der Kammer eilen, als er zwei Personen gegenüberstand, die lautlos den Raum betreten hatten. Abschätzend musterte er die Männer. Auch wenn sie sich alle Mühe gegeben hatten, ihre verschlissene Kleidung zu ordnen, war ihnen anzusehen, dass sie nicht der Hautevolee der Kleinstadt angehörten.
„Was wollt ihr Penner denn hier?“, schrie er mit vor Zorn gerötetem Kopf die beiden an. Die Angesprochenen sahen betreten auf den Boden.
„Wir wollten unsern Kumpel noch ein letztes Mal sehen, bevor ...“
„Bevor was?“, schnitt Pfilzer Ihnen das Wort ab. „Bevor er im Säuferhimmel auf ewig seinen Rausch ausschläft?“ Der Stress der letzten Tage ließ seine Stimme überschlagen.
„Überhaupt, ein ordentliches Begräbnis für euch Gesindel auszurichten, ist rausgeschmissenes Geld. Ein Loch ausgehoben und rein mit euch, ohne jeden Zirkus.“ Pfilzer wollte gerade zu einer weiteren Tirade anheben, als eine dritte Person eintrat.
„Habt ihr noch einen von euren Saufkumpanen mit ...“, begann er, verstummte aber sofort, als er erkannte wer da den Raum betreten hatte.
„Gibt es ein Problem?“ Pfilzers Augen weiteten sich bestürzt.
„Hochwürden, was führt Sie denn hier her?“ Seine Stimme wechselte übergangslos in einen demütigen Ton.
Der Pfarrer, ein hoch gewachsener, Ehrfurcht gebietender Geistlicher alten Schlages, setzte mit gelassenem Tonfall fort:
„Ich hatte heute Morgen Besuch von diesen zwei Herren hier, die ihrem Freund noch ein letztes Lebewohl auf den Weg mitgeben wollten. Da ich Sie in Ihrem Geschäft nicht erreichen konnte, dachte ich mir schon, dass Sie mit den Vorbereitungen für die Beerdigung beschäftigt sind.“ Hier machte er eine kleine Pause und betrachtet eingehend den Sarg vor sich. Dann trat er näher an ihn heran, ließ seine Hände über das polierte Holz gleiten und hob prüfend die schweren Griffe an den Seiten an.
„Ich bin wirklich sehr positiv überrascht, welch ein edles Modell Sie für den mittellosen Mann ausgesucht haben, aber für ehrliche Anteilnahme und ohne auf den Cent zu achten, ist ihr kleines Unternehmen ja hinreichend bekannt, nicht wahr?“ Dieses „nicht war?“ mit angehobener Stimme und zielsicher wie ein Pfeil abgeschossen, hatte Pfilzer aufgespießt wie Tell den Apfel. Mit hochrotem Kopf und der Ausrede, noch einige dringende Vorbereitungen treffen zu müssen, quetschte er sich zwischen den Anwesenden hindurch und eilte zu seinem Benz.

Zufällig vorbeikommende Spaziergänger blieben verwundert am Rande des Friedhofes stehen, als die melodischen Klänge eines Waldhorntrios ihren klagenden Totengesang über das Gräberfeld schickten. Aufwändige Blumengebinde schmückten einen edlen Eichensarg, der von eilig organisierten Mitgliedern des Stadtverbandes in traditioneller Ehrentracht zur letzten Ruhe begleitet wurde. Umso erstaunlicher war es, dass der Trauerzug hinter dem Sarg aus lediglich zwei ärmlich gekleideten Gestalten sowie dem Besitzer des örtlichen Beerdigungsunternehmens Gottlob Pfilzer bestand. Im Vorbeigehen zwinkerte der Pfarrer unmerklich dem Bestattungsgehilfen Alfred zu, der kleine, rote Rosen aus einem geflochtenen Weidenkorb an die Trauernden verteilte und in dessen Augen ein unergründliches Geheimnis ruhte.
 

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