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Der Urg

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©  Geminus   
   
Der Urg stand letzten Montag unerwartet und höhnisch grinsend auf der Seifenablage im Badezimmer während ich mich ahnungslos rasierte. Bis jetzt hatte ich mich gegen die idiotensichere Doppel und Dreifachklingenstrategie der der Multirasieries, erfolgreich gewährt. Und nun schnitt ich mir vor Schreck, mit der museumsreifen Rotbart, fast die Kehle durch. „Bravo“, meinte der Urg. Allerdings eher undeutlich, da er den Mund voll von meinem Blut hatte. Behände war er mir von der Ablage an den Hals gesprungen und hatte sich schmatzend an ihm festgesaugt. Mit einem reflexartigen Griff packte ich ihn wie eine zu große Zecke und schleuderte ihn in den Arzneischrank, wo er zwischen Aspirin und einer Tube Zinksalbe aufschlug. „Kriegst mich nicht tot!“, hörte ich seine Fistelstimme triumphierend krähen. Da Alkohol, Drogen oder auch zu viel Sex in der vergangenen Nacht auszuschließen waren, schien ich entweder verrückt geworden zu sein, oder ich befand mich in einem ziemlich abgefahrenen Albtraum. Haltung bewahren und die Realität wieder herstellen. Finger an die Stirn, Augen schließen, Mund weit öffnen, tief Luftholen und:
„OOOOOHHHHHHMMMM“
Mist. Die Zinksalbe traf zielsicher meinen Riechknorpel. Mit dem Versuch transzendenter Selbsthypnose war es augenblicklich vorbei. Na warte, ist ja nicht so das ich nichts drauf hätte. Achtzehn Monate Bund können ja nicht umsonst gewesen sein. Das dreckige Lachen aus der Rotkreuzkiste erweckte ungeahnte Gewaltfantasien in mir. Mit einem Ruck riss ich die lächerliche Blümchengardine vom Glassteinfenster. Schnell zusammengefaltet und um die Stirn gebunden. Anschließend mit Helgas Lippenstiftsammlung einige Ehrfurcht gebietende Streifen auf Wange und Stirn gemalt. Die Verwandlung in Chingachgook, hat dann doch ein wenig zu lange gedauert.
Pillendosen, Leukoplastrollen, eine Tube Zahnpasta, mehrere Flaschen mit Medizin und Helgas verzweifelt gesuchte Wimpernschere regneten erbarmungslos auf mich herab. Eiskalte Wut ist ein schlechter Begleiter. Der Spiegel hatte meinen ungezielten Wurf mit der Klobürste jedenfalls nicht überlebt. Aber immerhin lagen einige spitze Glasscherben auf den Fliesen verteilt. Nur schneller sein als diese hässliche Heimsuchung. Ein schmerzhaftes Stechen im linken Unterschenkel belehrte mich, dass Größe nicht gleich Schnelligkeit ist. Böses ahnend, sah ich an mir hinunter. Das ekelhafte grüne Ding klebte, eine Scherbe in Händen, bereits fröhlich saugend an meinem Bein. Es sah aus wie der gentechnische Supergau, nach dem Versuch eine Eidechse mit einer Barbiepuppe zu kreuzen. Das Schmatzen klang wie „urg, urg, urg“. Während das Etwas trank, schwoll sein Bauch auf das Doppelte an. „Hau ab!“, schrie ich ebenso sinn- wie erfolglos. Hinterrücks hob auch ich eine besonders spitze Spiegelscherbe vom Boden auf und versuchte damit in das Ekel hineinzustechen. „Kriegst mich nicht tot“, krähte das Biest zum zweiten Mal und war weg, bevor ich mir einen zweiten schmerzhaften Stich ins Bein verpasste. Ich kam mir ziemlich perforiert vor und das nicht nur körperlich. Mein Gehirn schien irgendwie durchlöchert und konnte keine klare Strategie entwickeln. Hing vielleicht mit dem Blutverlust zusammen. Nimm dich zusammen Mann. Irgendwo ist deine Chance. Blitzlicht! Das könnte klappen. Unauffällig, eine dusselige Melodie vor mich hinpfeifend, hab ich mich der Ablage genähert und den Alaunstift zur Blutstillung an mich genommen. Dann bückte ich mich und zog ihn einmal durch meine Wunde am Knöchel.
Dickes klebriges Blut blieb an ihm hängen. Als Nächstes habe ich ihn hinter den Putzeimer geworfen und gewartet. Hat auch nicht lange gedauert. Obszöne Lutschgeräusche sagten mir, dass der Urg den selbst gebastelten Dauerlutscher gefunden hatte. Sekunden zogen wie Stunden an mir vorbei. Übergangslos ging das zufriedene Nuckeln in kurzatmiges Stöhnen und Keuchen über.
Dann Ruhe.
Ich hab noch zwei Minuten gewartet und hiernach vorsichtig der Ecke genähert, wo eben noch das Schmatzen herkam. Hinter dem Eimer hat er flach auf dem Rücken gelegen. Mit zwei Fingern habe ich ihn vorsichtig aufgehoben und kräftig geschüttelt. Erst als ich mir sicher war, dass er nicht mehr lebte, untersuchte ich ihn genauer. Er fühlte sich an wie eine pralle Blutwurst. Und so etwas Ähnliches war er auch. Nachdem die Kreatur Unmengen von meinem Lebenssaft getrunken hatte, war ihm der Alaunstift nicht sonderlich bekommen. Das Blut in seinem hässlichen Bauch war geronnen und hatte ihn umgebracht. Freund Rotbart hat mir kurze Zeit später geholfen, ihn in kleine Scheiben zu schneiden. Zufrieden spülte ich seine Reste dann die Toilette hinunter.
Letztendlich hab ich mich allerdings doch geärgert, dass ich ihn so schnell entsorgt habe.
Allen, denen ich vom Urg erzählte, hatten gleich so ein dämliches Grinsen im Gesicht.

Genau wie ihr jetzt gerade!

(Anmerkung für Nichtmänner und Fünffachklingenfuzzis: Rotbart ist eine altertümliche Rasierklingenmarke)
 

http://www.webstories.cc 08.05.2024 - 23:52:09