... für Leser und Schreiber.  

An die Kinder.

46
46 Stimmen
   
© Teilzeitmensch    
   
Er nahm die Tasse auf und trank einen Schluck Kaffee. Viel Zucker, viel Milch. Er trägt nur dunkle Socken, wobei man nicht sagen darf, sie sind nur schwarz, vielleicht sogar mal bunt. Aber niemals weiß. Seine Brille war auch schwarz und hatte kleine Gläser, auch wenn er bei diesem Kauf versuchte mal was zu wagen und wiederholt feststellen musste, es steht ihm einfach nur schwarze kleine Brillen. Seine Fingernägel sind immer säuberlich geschnitten, doch er hatte die Angewohnheit, oft Hautfetzen drum herum anzuknabbern. Wenn jemand hinfiel oder etwas ganz schlimmes passierte, da konnte er nicht anders, als erst zu lachen. Er wusste dass es schräg war und man ihn seltsam ansah. Deswegen gewöhnte er sich an, den Leuten vorher zu sagen, dass es sein kann, dass er lacht, auch wenn er es nicht witzig findet, sondern dies aus Entrüstung tut. Oft war er lustig, doch er konnte auch ernst sein, so wie jetzt, hier in diesem Café.
„Also, es geht darum, dass ich die Schauspielerin Ellen Page sehr anziehend und interessant finde. Ich habe ihre Filmliste angesehen. Und da fand ich einen Film, von dem ich noch nicht gehört habe und ich habe mich darüber informiert.“, sagte er und stellte die Tasse wieder ab. Er blickte seinem Gegenüber nach dem Abstellen direkt in die Augen.
„Wikipedia?“ –
„Ja, das ist ein unglaubliches Informationsarsenal. Nun, es war irgendwie echt krass und ich meine nicht das typische „Yeah krass Alter“-krass. Es war echt erschütternd. Ich konnte nicht aufhören es zu lesen und dann hab ich sogar noch Informationen darüber gesammelt und ich habe sogar die Personen gegoogelt. Weil es ja eine wahre Begebenheit ist. Aber nun, da ich all die Gesichter sah, krieg ich sie auch nicht mehr aus dem Kopf. Du weißt, ich hab so ein fotographisches Gedächtnis.“, sagt er hinabblickend, während er nach dem Kaffee greift und die Hand darauf ruhen lässt.
„Was für eine wahre Begebenheit denn?“ –
„Irgendwann im Jahre 1965 ist da wohl ein Mädchen gestorben. Und echt…“, er macht eine Pause, presst die Augenbrauen zusammen, beugt sich leicht vor. Seine Augen glänzen. „Das war so grauenhaft!“, sagt er mit leiser Stimme. „Ich kann mir gar nicht klar machen, dass es echt passiert ist… dass ein Mensch sowas einfach durchziehen kann.“ Er nimmt wieder einen Schluck Kaffee und diesmal schmeckt er schwarz.
„Erzähl doch …“ –
„Es fällt mir etwas schwer.“, er atmet tief durch und lehnt sich wieder zurück. „Nun, ein Schaustellerehepaar hat zwei Töchter. Sie können sie nicht mit auf die Tour nehmen und geben sie in die Obhut einer alleinstehenden Frau. Die hat schon irgendwie 4 oder 5 Kinder. Sie ist arm und braucht das Geld. Die Eltern schicken ihr nämlich jede Woche oder Monat einen beachtlichen Scheck. Ja, und eines Tages bleibt der Scheck aus. Sie lässt es halt an den Mädchen aus. Schlägt sie mit dem Gürtel. Anscheinend in dieser Zeit nicht unüblich. Du musst wissen, Kinder zu schlagen ist noch nicht so lange verboten. Also, der Scheck kam nur einen Tag zu spät. Das sagt sie den Kindern natürlich nicht. Naja, diese ganzen Details sind nicht so wichtig. Ich wollte damit nur sagen, dass es eben mit der Zeit immer mehr Gründe für die Alte gab, die Kinder dann mal zu bestrafen und irgendwann konzentrierte es sich nur noch extrem auf ein Kind. Diese Frau überschritt immer mehr Grenzen. Und so kam es… eh, ich kann es kaum aussprechen…“, er holt nochmals tief Luft und fasst nun den Kaffee gar nicht mehr an. Die Anspannung ist ihm anzusehen.
„Erst zwang sie das Mädchen, sie hieß Sylvia - also Ellen Page spielt sie -, sich vor den Nachbarn zu blamieren und dies damit, dass sie sich eine Colaflasche einführen soll, vor allen. Das musste sie wohl oft machen. Und eines Tages wurde sie dann in den Keller gesperrt. Und dann wurde es so richtig ekelhaft…“, er wendet sich ab und sieht aus dem Fenster. Man sieht ihm richtig an, wie es in ihm rumorte, ihn belastet, es ihn traurig macht.
„Was kann noch schlimmer sein als diese Erniedrigung?“ –
„Zigarettenstümmel, Steine, Stöcke, Fäuste, heisses Wasser…“, er macht eine Pause. „Kot?“, presst er hinaus. „Die Nachbarskinder durften ein- und ausgehen um mit ihr zu „spielen“, mit der Hilfe und oft Anweisung dieser alten, grässlichen Fettel. Wie ein Puppe wurde sie … mir wird echt schlecht. Ich erspare dir weitere Details. Es gab kein Happy End und das Mädchen starb.“, er hob wieder den Kaffee und trank einen Schluck. Der Kaffee war schon kalt.
„Ja, es ist grauenhaft, dass es solche Sachen gibt.“
„Allerdings! Also, ich hab dann am nächsten Tag einen anderen Film mit Ellen Page angesehen. Toller Film. Harmlos. Da war aber eine Szene. 4 Frauen, ihre Freundinnen schnappen sie an allen Vieren und schleppen sie weg. Mein erster Gedanke war voll „oh mein Gott, was machen die mit ihr?“ und das alles nur wegen dieser Sylvia Story…“, er lächelt gezwungen.
„Verstehe ich jetzt nicht.“ –
„Na sie, Ellen, ich hab sie auf Sylvia assoziiert. Ich weiß, die wahre Sylvia sieht ganz anders aus und das ist mir klar. Aber ich hab als ich das da am Anfang gelesen habe – und du weißt, ich bin ein visueller Mensch – gleich auf Ellen projektiert. Und hab irgendwie Traurigkeit eben für sie empfunden und das Gefühl ich müsste das Kind da retten. In diesem Fall eben Ellen. Klar, ich will alle Kinder retten. Aber weil es so frisch war, hatte ich Ellen im Kopf. Und aus so einer banalen Situation konnte ich nur „WARNING WARNING“ sehen. Und da fragte ich mich, ob das Ellen wohl auch so ging? Oder geht das alles spurlos an ihr vorbei? Nein echt jetzt, das ist ja schon eine Art Co-Erleben, so eine Rolle nachstellen. Ist das belastend?“
„Gute Frage, ich weiß nicht. Mal was anderes. Ich weiß, du hast schon viele Geschichten gehört über das, was Kindern angetan wurde. Ebenso was dir angetan wurde. Doch hier reagierst du echt sehr empfindlich. Wieso?“ –
„Ja weißt du, das habe ich mich auch gefragt. Und ich weiß tatsächlich, wieso es so ist. Immer wenn mir jemand was erzählte, dann legte ich es auf die Waage neben meines. Und wenn es nicht so Schwerwiegig war wie das meine, dann konnte ich es anhören. Es tat mir leid. Es tun mir alle leid. Alles ist schlimm. Nur, ich konnte es mir anhören ohne dass es mich verfolgte. Aber sobald wenn eine Geschichte schlimmer ist als die meine, dann geht es nicht. Es macht mich so fertig. Wie damals das Buch von Trudi Chase. Ich konnte 3 Monate meine Freundin nicht mehr anfassen.“ Er legt den Löffel auf den Unterteller.
„Entschuldige wenn das frech klingt, aber das klingt auch ein wenig so, dieses ganze Wiegen, als ob du die schlimmste Geschichte von allen haben wolltest… “ –
„Hmmm ja, das fragte ich mich auch zwischendurch. Ob ich deswegen wiege. Nein. Es ist eher so, dass es mich vergessen lässt, was ich hatte, das dies bei mir nur halb so schlimm war, wenn ich anderen ihre Geschichte höre. Weißt du, ich hab schon lange mein Happy End und ich lebe noch.“, er nimmt seinen eingepackten Keks in die Hand, der die ganze Zeit auf dem Unterteller lag und legt ihn aber gleich wieder zurück. „Dennoch sind schlimmere Geschichten als die meine wie Gift für mich. Widersprüchlich….“
 

http://www.webstories.cc 02.05.2024 - 07:08:44