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Die Mutter. Oder: Das schlechte Gewissen eines Dorfes

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© Michael Kuss   
   
Es brodelte schon seit Jahren und wir wussten es alle. Die Explosion war nur noch eine Frage der Zeit. Georg hatte den Kindern auf dem Schulweg aufgelauert und sich mit ihnen in der Mansarde verschanzt, die ihm das Sozialamt nach der Trennung von Anna zugewiesen hatte. Als wir mit dem Streifenwagen kamen, hatte er wahllos in die Gegend geschossen. Ich ließ die Straße absperren und scheuchte die Gaffer auf Distanz. Das Landespräsidium würde Scharfschützen und Psychologen schicken. Bis zu deren Eintreffen musste ich versuchen, den Mann hinzuhalten. Aber ich bin nur einfacher Dorfpolizist. Solche Dramen sind mir fremd.
„Georg! Lass‘ uns darüber reden!“ rief ich durch die Flüstertüte nach oben. Ich kannte Georg schon, da ging der noch in den Kindergarten und ich war schon Polizist.
"Es gibt nichts mehr zu reden!" schrie Georg zurück. "Von euch Bullen und Bürokraten hab' ich genug! Ihr habt mein Ultimatum!" Mit einer Hand hatte er den Hals des Mädchens umklammert, mit der anderen hielt er den Karabiner an Marions Schläfe. Dahinter stand der Junge mit weit aufgerissenen Augen. Sein Mund war mit Heftpflaster verklebt.
Wir hatten die Mutter von der Arbeitsstelle geholt. Anna war dreißig und die beste Freundin meiner Tochter. "Anna!" beschwor ich sie. "Er will, dass du zu ihm zurückkommst! Oder ihm die Kinder überlässt!"
Anna stammelte. "Ich kann nicht mehr! Er ändert sich nie!" Mund und Hände zitterten. Ihre Augen flatterten wie bei einer Irren.
"Denk' an die Kinder!" sagte ich.
"Die Kinder? Die wären besser tot, als bei ihm ...!"
"Anna! Was redest du da ...!?" Ich tat entsetzt.
"Was ich da rede?" Sie begann zu schluchzen. "Gerade die Polizei muss mich so etwas fragen!? Als ich euch früher um Hilfe angerufen habe, da hieß es, Streit zwischen Eheleuten geht die Polizei nichts an! Später habe ich am ganzen Körper geblutet, die Kleine hatte blaue Flecken, und ihr habt mich zum Jugendamt geschickt, statt Georg festzunehmen! Und das Jugendamt hat Akten verwaltet, statt einzugreifen! Das ganze Dorf weiß, was er mit Marion getrieben hat! Aber eure Scheiß-Behörden ...?! Nichts! Hier im Ort stecken alle unter einer Decke! Skatbrüder und Fußballfans, Säufer und Polizisten! Alles Heuchler!"
"Behörden können ohne gerichtliche Entscheidung nichts unternehmen..!" Ich ignorierte ihre Anklage und versuchte das Gespräch zu wenden.
"Und unterdessen säuft er weiter und prügelt uns zu Tode oder vergreift sich an Marion!" Annas Stimme überschlug sich. "Er hat es auf keiner Arbeitsstelle ausgehalten! Nichts war ihm gut genug! Er hat nur genommen! Nie gelernt, etwas zu geben oder Schwierigkeiten zu bewältigen! Ein verwöhntes Muttersöhnchen! Alles blieb an mir hängen! Bis ich nicht mehr konnte!" Sie schluchzte. Ihr Körper schüttelte sich.
Plötzlich ein Schuss!
Georg fuchtelte oben im Fensterrahmen mit dem Gewehr und schrie: "Anna! Wenn du in einer Minute nicht hier oben bist, gehen die Kinder hops! Ist das endlich klar?! Ich zähle ..., eins -, zwei ...!"
Totenstille!
Sogar die Dorfgaffer hielten den Atem ab.
Anna erstarrte und wurde bleich.
"... Zwölf, ...Dreizehn!"
Plötzlich rannte sie ohne Deckung auf das Haus zu.
"Bleib' hier ...!“ rief ich.
"Georg! Bitte warte! Ich komme zu dir zurück! Mit den Kindern! Es wird alles gut werden! Ich schwöre es! Hier vor allen Leuten!" Wie eine Irre war sie nach oben gehetzt.
Ich erkannte beide schemenhaft hinter dem Fenster. Anna hatte ihre Arme um ihren Mann geschlungen. Ich begann aufzuatmen.
In der nächsten Sekunde wurde die Stille von einem Schuss zerrissen. Mit gezogener Dienstwaffe rannte ich ins Haus. Georg lag tot am Boden. Anna stand daneben. In ihrer Hand das Gewehr. Neben ihr standen die Kinder und klammerten sich an sie. Unten bogen die Polizeiwagen aus der Kreisstadt mit Sirenen, Scharfschützen und Psychologin in die Straße ein.
Heute war dritter Verhandlungstag. Ich war als Zeuge geladen. Sachverständige haben ihr Gutachten abgegeben. Morgen ist Urteilsverkündung. Ich hoffe für Anna und die beiden Gören. Und auch ein bisschen wegen dem schlechten Gewissen, das uns im Ort befallen hat.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 00:51:51