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Norchas Mühlenkinder (Kapitel 79 und 80)

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©  Shannon O'Hara   
   
Entschlossen setzte Radh den ersten Schritt, die Mühlenanlage zu betreten. Und wurde von Phroner, der ihm seine Hand auf den Arm legte, zurückgehalten. Verwirrt schaute er den älteren Freund an.
„Was ist los?“
Die Worte, die ersten, seit sie den Brunnen verlassen hatten, glitten wie gezischt zwischen seinen Lippen hervor. Beschämt erkannte er das leichte Zusammenzucken des Auxell, legte ihm um Vergebung bittend die Hand gegen den Oberarm.
„Andras und Melân rufen uns.“
Überraschung und Schreck ließen ihn erstarren. Wieso konnten die beiden nach so vielen Tagen ihren Vater in der Ferne erreichen? Sollten sie zusammengetroffen sein?
Etwas Schreckliches musste vorgefallen sein, dass die Geschwister ihren Vater nicht wie vereinbart erst zum Abend sondern jetzt, am Nachmittag, riefen. In seinem Kopf rasten die Bilder. Eines schlimmer und blutiger als das vorherige. Bis in die letzten Fasern seines Selbst erschreckt, versuchte der Barde in den Zügen Phroners zu lesen.
„Sie sind sehr aufgebracht, rufen, warnen.“
Hilflos blieb ihm nur, den Freund weiter zu beobachten.
'Warnen? Uns hier in Seicôr? Wovor? Doggar!'
„Sie sind in die Tempelanlage von Xabêr eingedrungen.“
Freude dehnte sich aus, ließ die Bilder des Schreckens in einem milderen Licht erscheinen. Damit hatte Calla ihre Mission erfüllt.
Wie ein wildes Tier sprang in diesem unbedachten Moment die Sorge auf ihn zu. Wegen solch einer Botschaft würden die Auxell nicht warnend mit ihrem Vater in Kontakt treten!
Etwas musste im Reldoc vorgefallen sein, das ihre Gruppe, ihre Mission gefährdete. Verwirrung zeichnete sich in den Zügen Phroners. Leise glitten die Worte über seine Lippen, ließen jede Überzeugung vermissen.
„Wir dürfen auf keinen Fall das Mühlrad anhalten.“

Epilog
„Calla!“
Der laute Ruf, dessen Widerhall sich wie rollend durch den langen Gang bewegte, ließ sie aufmerken und sich von den Papieren abwenden.
„Calla!“
Ein wenig kurzatmig nach dem Lauf presste der Junge das Wort über seine Lippen.
„Radh fragt über die Kommunikationsschale an, ob wir zum Sonnenfest kommen werden.“
Das erwartungsvolle Strahlen in den Augen des Jungen streichelte ihre Vorfreude auf das Fest und das Wiedersehen mit den Freunden. Kitzelte auch die verwegene Ader weiblicher Spitzfindigkeit.
„Und wer ist „wir“?“
Der Schatten des Schreckens zog über das Gesicht des Jungen, wurde Augenblicke später von seinem Grinsen verdrängt.
„Na, du und ich und die anderen. Eben so viele wie Platz auf dem Gleiter finden.“
„Ah, ja.“
Den kleinen Kampf genießend lehnte sie sich auf dem kühlen Sitz ein wenig zurück.
„Wieso meinst du, dass ich dich mitnehmen würde?“
Er schwankte von einem Fuß auf den anderen, vermittelte ihr den Eindruck, ihn verunsichert zu haben, was sie innerlich auflachen ließ. Sie beobachtete seinen suchenden Blick an ihr vorbei auf die Papiere, die den Tisch bedeckten. Das Strahlen kehrte in seine Augen zurück.
„Weil ich die beste Arbeit von allen abgegeben habe.“
„Bist du dir sicher?“
Wieder setzte seine Pendelbewegung ein, wieder zog ein Schatten der Verunsicherung über seine Züge.
„Schauen wir uns deine Arbeit doch einmal an.“
Mit einer wischenden Bewegung verschob sie die Seiten gegeneinander. Sie suchte, bis sie den Bogen mit seinem Namen fand.
„Aufgebrochen in der Ferne der Galaxie,
zu einer Zeit, die keiner mehr erinnert,
suchte die „Norcha“ aus dem Flottenverband der „Survival“
eine neue Heimat für jene, die vertrieben.“
Ihr Blick glitt von dem Papier in sein Gesicht.
„Und weiter?“
„Nun ja, der Anfang ist doch wirklich gut. Und warum sollen wir eine Ballade für Radh schreiben? Er kann das viel besser.“
Ein tiefer Atemzug ließ sie sich leicht strecken.
„Und weil er als Barde das viel besser kann als du, der du ein Schüler aus Xabêr bist, hast du die weiteren Ereignisse nur noch aufgelistet: lange Reise durch den Weltraum, Meteoriteneinschlag in die Steuerungsmodule, Entscheidung des Rates, das Terraforming-Programm auf dem Dach des Raumschiffes zu aktivieren, Entstehung der Welt „Norcha“, massive Probleme mit der Wasserzirkulation zur Kühlung der Aggregate, Energieeinspeisung über Sonnentraktoren, und so weiter, und so weiter.“
Leichter Groll regte sich in ihr. Colwin hatte seine Aufgabe bei weitem nicht zu ihrer Zufriedenheit erfüllt. Sein liebenswertes Lächeln steigerte noch ihren Ärger.
'Er meint, mich um den Finger wickeln zu können!'
Nährte ihren Groll, da er sein Ziel trotz allem erreichen würde. Der Gleiter bot Platz für sieben und sie hatte zurzeit nur fünf Schüler, die sie mit nach Fellsane nehmen konnte.
'Fellsane!'
Unaufgefordert drifteten ihre Gedanken in weite Ferne, verließen die Lehranstalt Xabêr, verließen das Reldocgebirge, flogen über die weite Ebene entlang des Flydân, umrundeten die südlichen Ausläufer des Kredôrr und ließen sich in der ehemaligen Festungsstadt Fellsane nieder.
Die Festung zu Fellsane, wo sie vor fünfzehn Jahren als Küchenhilfe mit ihrer Freundin Garte dem Grafen Marret aufgewartet hatte. Wo sie dem Gardisten Uwlad und dessen Vorgesetzten Doggâr erstmals begegnet war.
Garte hatte nach dem Zusammenbruch des Priestermonopols ein Jahr mit ihr in Xabêr gelebt und gelernt. Sie wollte sich Wissen aneignen, das sie in Fellsane weitergeben wollte. Zu dem Zweck hatte die Ältere in der Festungsanlage, nachdem Marret und Kanda weggegangen waren, eine Schule gegründet, die sehr gut besucht wurde.
Uwlad hatte den Bestrebungen seiner Frau mit gemischten Gefühlen gegenüber gestanden, wollte er sie doch viel lieber als Mutter vieler Kinder an seiner Seite sehen. In den ersten Jahren der Veränderung hatte es daher häufiger Zwistigkeiten bei dem jungen Paar gegeben, Begebenheiten, die Calla immer wieder mit Traurigkeit heimsuchten. Doch seit einigen Jahren hatte Garte neben ihrer Lehrtätigkeit die Zufriedenheit einer Mutter kennengelernt. In Gedanken überflog Calla die Reihe der Kinder, die Uwlad und Garte in der Zwischenzeit als die ihren benennen konnten. Grinsend stahl sich ein Gedanke in ihren Geist:
'Ob Garte mich wieder mit einem gewölbten Bauch zum Sonnenfest begrüßen wird?'
Ihre Gedankenreise ließ sie Gradur besuchen, die Hütte des Vaters betreten, seit Jahren verlassen. Er hatte nie den Verlust der Gattin und der beiden Söhnen überwunden, hatte den Umsturz und die tragende Rolle der Tochter nicht mehr erlebt. Traurigkeit rollte schwer über ihr Gemüt, ließ sie sich mit einem leichten Aufstöhnen mit den Ellbogen auf dem Tisch abstützen, ungeachtet der von Kinderhänden beschriebenen Papiere.
Der laue Wind, sich über dem Firlayc sammelnd, erreichte sie in Gradur, hob sie auf weißen Schwingen an und trug sie gen Selboc.
Radh hatte den Weg zurück in seinen Heimatort gefunden, hatte allerdings nie wieder ein Boot betreten, den Weg des Vaters weiter zu gehen. Gemeinsam mit ihr und Garte hatte er sich nach dem Umsturz von den Priestern Xabêrs, die vielfach die eigene Machtposition nicht erfasst hatten, in Lesen und Schreiben schulen lassen. Gerüstet mit diesen Fertigkeiten kehrte er heim nach Selboc. Zuerst schrieb er seine Balladen auf, band sie in einem Buch zusammen und erfreute weiterhin viele Besucher der folgenden Sonnenfeste mit seinen Darbietungen. Vielleicht hatte er bereits mit seiner neuen Mission begonnen.
Die erwartungsvolle Anspannung ließ Calla leise lächeln. Sie legte ihren Kopf in die aufgestellten Hände und träumte in das warme Sonnenlicht hinein, das die Bücherei erhellte.
Radhs neue Mission. Er wird ihre Geschichte zu Papier bringen. Die Geschichte der Rebellen von Norcha, die Geschichte der Mühlenkinder. „Norchas Mühlenkinder“.
Baldur und Kelrik hatten während des letzten Sonnenfestes so unterschiedlich auf Radhs Eröffnung reagiert wie sie in ihrer Persönlichkeit verschieden waren. Baldur, ruhig und besonnen, hatte sich still gefreut, hatte den Barden gebeten, Sarrep, den durch Doggâr gezeichneten Jüngling, nicht zu vergessen. Kelrik hingegen, der zu jeder sich bietenden Gelegenheit eine spitzfindige Bemerkung abgeben musste, hatte sich gefreut, mit den Seiten des so entstehenden Buches leichter ein Feuer im feuchten Pellmoor entzünden zu können. Grinsend hatte Radh erwidert, er würde Sorge tragen, dass Kelrik eine Sonderanfertigung erhielte: kein Papier, sondern mit Salkur bestrichene Fischhaut.
Mit einem tiefen Durchatmen erlaubte Calla den Bildern der damaligen Pellmoorquerung das Auftauchen. Schwer legten sich die Nebel der Erinnerung auf ihr Gemüt, lediglich angehoben durch das Wiederfinden von Tania und Hodur.
Wieder glitt ein warmes Lächeln über das Gesicht der Frau. Tania hatte sich damals Hodur angeschlossen, der in Seicôr geblieben war, nachdem die alten Strukturen zerbrochen waren. Die Mühlenanlage musste weiter betrieben werden, das war allen klar geworden. Doch musste ebenso dringlich eine Veränderung geschaffen werden.
Der Schwarze Gleiter erfuhr nur noch einen Einsatz als Transportfahrzeug. Er diente fortan, das langwierige und beschwerliche Erklimmen des Reldoc, die Lehranstalt Xabêr zu erreichen, zu verhindern. So würde er auch in den kommenden Tagen ihr und den Kindern dienen, nach Fellsane zu gelangen.
Um die Mühlenanlage und deren Betrieb zu verändern, taten sich viele Dwelg aus Gnarphat und Hansân zusammen, trugen mit vereinten Kräften die Felsendecke über dem Mühlrad ab, glichen den Grund aus, so dass fortan Ochsen an die Speichen gespannt werden konnten.
Lediglich hin und wieder geschah es, dass einer der stämmigen Hünen, die damals den Wachtdienst versahen, sich im Rausch des Gerstensaftes rühmte, das Rad besser drehen zu können als die Tiere. Solch eine Äußerung griff Hodur immer wieder gern auf, den Ochsen einen Tag fern der Arbeit zu gewähren.
Solche Tage würden auch bald auf sie zukommen.
Genüsslich lehnte sie sich in die Rückenlehne des Stuhls, streckte ihre Arme gen Zimmerdecke, als wollten ihre Finger nach der Zufriedenheit greifen, die über ihrem Kopf schwebte. In ein paar Tagen würde sie in Fellsane sein, würde an dem diesjährigen Sonnenfest teilnehmen und all die liebgewonnen Menschen wiedersehen.
Nein, nicht alle.
Im letzten Jahr, nur wenige Wochen nach dem Sonnenfest, erreichte sie die Kunde, dass Phroner verstorben war. Die damals verspürte Trauer griff auch jetzt nach ihrem Herzen. Er war ihr ein sehr wichtiger Weggefährte geworden. Niemals, das wusste sie genau, würde sie den blinden Steppenreiter vergessen. Genauso, wie sie nie seine Kinder vergessen würde. Vielleicht, weil sie mit Melân niemals eine Freundschaft verbunden hatte, vielleicht, weil sie durch ihren Bruder erstmals die Liebe in ihrem Inneren hatte erblühen sehen, spürte sie ein inniges Band, das sie in den Höhen des Reldoc mit jenen Menschen in der Steppe Auxells verband.
Neuerlich atmete sie tief durch, straffte ihre Haltung. Langsam, als lägen ihre Gedanken wie lastende Mühlsteine auf ihren Schultern, erhob sie sich. Während sie den langen Gang nahm, betrachtete sie weiterhin die Bilder in ihrem Geist, spürte sie den Empfindungen nach, die diese in ihrem Herzen weckten. Kurz verharrte sie unter dem lichten Bogen des Einganges, auf jener Schwelle, die sie in Begleitung Doggârs vor so vielen Jahren erstmals überschritten hatte. Verharrte an jener Tür, die sie allein durch die Führung Doggârs zu handhaben erkannte.
'Doggâr …Ragon!'
Wie jeden Morgen, wenn das leuchtende Rund der Sonne die höchsten Gipfel des Reldoc streichelte, wenn ein neuer Tag über Norcha geboren wurde, näherte sich Calla dem Grabmal des ehemaligen Hauptmannes und Priesters. Wie jeden Morgen vermeinte sie auch jetzt bei der Annäherung an jenen kühlen Ort seine Nähe zu spüren. Eine wohltuende, führende Nähe, lange nicht mehr jene angstschürende, gewalttätige, die sie über viele Tage und Wochen zu fürchten gelernt hatte.
Mit jedem Schritt leerte sie ihren Geist von den Bildern, die sie vorhin noch begleitet hatten. Mit jedem Schritt reinigte sie ihr Herz, sich ganz und gar auf jene Lenkung einzulassen, die ihr ihre wirkliche Mission vor Augen geführt hatte.
'Ja, ich bin auserwählt, Lehrende unter Lernende zu sein und selber tagtäglich zu lernen.'


- E N D E -
 

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