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Nackte Jungfern

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© Michael Brushwood   
   
„Guck mal dahin, mein Häschen! Sind sie nicht herrlich anzuschauen, diese nackten Jungfern?“

Für Papa Klaus war Söhnchen Fritz schon immer das Häschen gewesen, da er zehn Jahre nachdem er das erste Mal die Welt aus eigenen Augen sah, immer noch viel zu mickrig geblieben ist. Klein wie ein Häschen, aber auch flink wie ein Häschen. Nichts, aber auch gar nichts, war in der elterlichen Wohnung vor seinen flinken Händchen sicher. Egal ob es sich um süßes Naschwerk oder um anderen x-beliebigen Kram handelte.
Aber auch manche Worte, die nicht immer der guten Kinderstube entsprachen, purzelten schon mal ganz versehentlich - wie unaufhaltsame Gerölllawinen - aus dem zarten, dafür aber um so kecken Spitzmausmund dieses drolligen Filous.

„Was redest du nur für ein dummes Zeug! Ich sehe doch keine nackten Jungfern, ich sehe doch nur schöne bunte Krokusse!“, antwortet Fritz scharfzüngig.
„Die meine ich doch!“, sagt Klaus mit todernster Miene und einem aberwitzigen Augenrollen.
Doch Fritzchen gibt sich nicht zufrieden. Ungeduldig fährt er fort:
„Wieso kommst du auf nackte Jungfern?
Meine Mathelehrerin ist doch eine alte Jungfer und außerdem ist die nicht nackisch, sondern immer „nur“ so blöd angezogen!“
Ein freches, aber dennoch hübsch anzuschauendes, Grübchenlächeln durchzieht fast die gesamten Wangenpartien seines zwergenhaften Gesichtes.
Aber der manchmal schon ein wenig überfordert wirkende Alleinerziehende erwidert Söhnchens Lachen auf seine ihm ureigenste Art. Unwirklich schräg deformieren sich Vaters Mundwinkel. Seine gespenstig grünen Augen wölben sich in beachtlicher Schärfe aus seinen geweiteten Höhlen, wodurch das ohnehin schon giftig wirkende Grün nun noch furchteinflößender zur Geltung kommt. Zudem durchfurcht ein ganzes Bündel von Falten die Stirn des Vaters, deren außergewöhnliche pädagogische Fähigkeiten Fritz schon in vollen Zügen genießen durfte. Eine bedenkliche Mischung aus Wut- und Denkfalten, unter denen es sich sogar noch einige scharlachrote Flecken so schrecklich gemütlich gemacht haben, bestimmt sein derzeitiges Antlitz.
„Was bildest du dir bloß ein! Die ist doch keine alte Jungfer, die ist doch „nur“ eine bildschöne Frau, die gerade erst Vierzig geworden ist. Da kann man doch wirklich nicht von alt sprechen und Jungfer ist sie gleich gar nicht!“ , tobt Klaus wie ein rüder Terrier. Und dennoch scheint, trotz seiner zornbebenden Stimme, zumindest ein kleines Häufchen von Schalk in seinem Nacken zu sitzen. Sonst hätte er doch nicht die Redewendung „nur eine bildschöne Frau“ über seine Lippen springenlassen.
„Ich bilde mir gar nichts ein! Alle aus meiner Klasse haben doch behauptet, dass die alte Ziege eine alte Jungfer ist“, sagt Fritz, der immer noch sich so provozierend gelassen gibt, im Brustton der Überzeugung. Die Wutreaktionen auslösenden Lachfältchen in seinem schmalen Gesicht haben sich glücklicherweise verflüchtigt.
„Und du plapperst diesen Schwachsinn einfach nach wie ein Papagei!“
„Na und!“
„Was heißt hier na und!“, setzt Klaus mit krächzender Stimme ein Ausrufezeichen.
Der schlaue Fritz hat aber noch einiges im Köcher:
„Woher willst du denn wissen, dass Frau Ziege keine alte Jungfer ist?“ bohrt das Jüngelchen unerbittlich nach.
Fritz scheint aus Vaters Augen gelesen zu haben, was Sache ist.
Nervig tönt es aus dessen Mund:
„Ich weiß es eben sehr genau!“
Ein gewaltiger Schreck durchfährt Fritzchens Glieder – so gewaltig, dass er sich auf seinen wackligen fadendünnen Beinen nicht mehr halten kann. Mit kaum zu glaubender Wucht landet sein ganzer Leib, zuerst aber sein listiger Kindskopf in diesem wunderschönen Teppich, in denen diese nackten Jungfern sich geschickt formiert haben, um die ersten warmen Sonnenstrahlen dieses Frühlings zu genießen.
Der Schädel des Jungen brummt mächtig und dieser eigenwillige Schädel könnte in absehbarer Zeit sogar noch mächtiger brummen. Nämlich dann, wenn bei den anstehenden Mathe-Hausaufgaben – auf die er naturgemäß liebend gern verzichten würde – eine wie ein präzises Schweizer Uhrwerk funktionierende Pädagogin an seiner Seite stünde, mutmaßt Fritz, der trotz seines unheimlichen Schmerzes noch einen kühlen Kopf bewahrt hat, im Verborgenen.
„Was bist du nur für ein dämlicher Depp!“, wettert Klaus total erzürnt.
„Kannst du nicht mal diese herrlichen nackten Jungfern in Ruhe lassen!"
Fritz schaut Vater tief in die Augen.
„Viel lieber wäre es mir, wenn du diese alte Ziege in Ruhe lassen würdest!“
„Das kannst du dir aber ein für allemal abschminken!“...
Die Antwort bleibt ihm förmlich im Halse stecken. Er ist aber fest davon überzeugt, dass
hübsche Krokusse eben doch die besten Jungfern sind!
Fast jeder dürfte dafür Verständnis haben. Nur Papa nicht. Natürlich nicht!
 

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