... für Leser und Schreiber.  

Opfer?

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© Robert Kühl   
   
Marie hielt es einfach nicht mehr aus. Sie fühlte sich innerlich immer spröder werdend. Manchmal spürte sie überdeutlich die Grenzen ihrer Kraft.
Hans war krank, schon seit vier Jahren, und er würde nie wieder gesund werden. In diesen vier Jahren war sie immer bei ihm – wie in den dreißig Jahren zuvor auch –, kümmerte sich, gab Halt. Sie tat es aus Liebe, und sie tat es ganz selbstverständlich.
Hans hatte sich verändert durch die Krankheit, war hart geworden. Eigentlich war da nichts, was er forderte – aber es war auch nichts mehr, was er gab. Zunehmend spürte sie den Zorn, der ihn erfüllte. Sein Lachen, das sie so gebraucht hätte, war Erinnerung.
Nein, leid tat er ihr nicht. Obwohl sie ihn manchmal bedauerte. Sie sah ja, wie er kämpfte. Und es war dazu ein zweifacher Kampf: Der gegen die Krankheit und die Schmerzen und der andere um sich selbst. Das anerkannte und erkannte sie. Sie hoffte nur, dass dieser Zorn in ihm ob der Ungerechtigkeit sich nicht in Hass wandeln würde. Dann würde sie gehen.
Lange Zeit hatte sie versucht, ihm auch von seinem Zorn zu nehmen. Irgendwann sah sie, dass er sich in diesem zweifachen Kampf erschöpfen könnte und redete mit ihm darüber. Aber er verstand sie nicht, und dieses Gepräch schien seinen Zorn sogar zu schüren. Und das pflanzte ein neues Gefühl in sie: Angst.
Und auch die wieder zweifach: Angst, ihm zu nahe zu kommen, und Angst um sich selbst. Sie hatte Angst davor, irgendwann zu zerbrechen. Da wollte sie nicht hin, aber sie sah auch keinen Ausweg. Manchmal, ganz entfernt, spürte auch sie schon Zorn, Hilf- und Mutlosigkeit. Zunehmend fühlte sie sich hin- und hergeworfen von diesen Gefühlen und sie nahmen stetig von der Kraft, die sie für Hans und für sich brauchte. Es war kein Fallen, doch immer deutlicher ging es abwärts. Und dabei fühle sie sich zunehmend eingesperrt.
Es gelang ihr einfach nicht mehr, auszuruhen. Kein Buch, kein Spaziergang, kein Gespräch. Sie fühlte sich nur taub, wenn sie einen Moment Ruhe fand.
Um auszubrechen aus diesem Teufelskreis hatte sie vor drei Tagen einen Urlaub gebucht. Ganz spontan war das geschehen. Sie ging am Schaufenster eines Reisebüros vorbei, in dem ein Plakat von Borkum hing. Es sprang sie geradezu an, und plötzlich wusste sie, wohin sie wollte. Es war ein total neues Gefühl, als sie nach der Buchung wieder auf der Straße stand und für einen Moment überlegte.
Es war drückend. Obwohl sie sich „gefunden“ hatte, denn allein schon durch die Idee Borkum fühlte sie sich gerettet. Nein, sie war nicht froh darüber, und da war auch keine Freude, aber sowas wie Dankbarkeit schien sie zu stärken. Es war gut!
In den nächsten Tagen hatte Marie damit zu tun, eine Hilfe zu finden, die sich in der Zeit um Hans kümmerte. Ihr war klar, dass ein schweres Gespräch mit ihm noch bevorstand, aber sie wusste, was sie wollte. Das war ein gutes Gefühl. Und als sie alles erledigt hatte, sprach sie ihn morgens beim Frühstück an. Sie wusste, wie er reagierne würde, doch sie fürchtete sich nicht mehr davor - in ihr war ruhige Kraft und viel Zuversicht.
Marie sprach davon, wie’s ihr ging und was sie fühlte. Sie wollte, dass er verstand. Und dann erzählte sie ihm von Borkum.
Hans schwieg zunächst. Dann platzte es aus ihm heraus. Wieder richtete er seinen ganzen Zorn auf sie, doch diesmal machte es ihr nichts aus. Sie blieb stumm und sah ihn dabei an. Und sie wartete, bis er sich leergelaufen hatte. Und es war nur eine einzige Frage, die sie ihm stellte, ruhig und zugewandt.
„Kannst du mir die Zeit nicht schenken?“
Dann stand sie auf und ging nach nebenan.
 

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