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Die Pistole

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© Ingrid Alias I   
   
Die S-Bahn war ziemlich leer an diesem frühen Nachmittag, trotzdem setzte sie sich nicht auf einen der freien Plätze, es lohnte sich nicht für die drei Haltestellen.

Er stieg kurz nach ihr ein. Er stand vor ihr an der Tür, und sie konnte ihn sich in aller Ruhe anschauen.
Er trug eine dunkelgrüne Lederjacke, war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt und machte einen leicht autoritären Eindruck.
Sie interessierte sich nicht wirklich für ihn – das mit den Männern hatte sie schon lange aufgegeben – aber die grüne Lederjacke gefiel ihr. Sie hatte einen guten Schnitt, das Material schien hervorragend zu sein... Und plötzlich kapierte sie es: Der Mann trug die kleidsame grüne Landesarbeitstracht von Nordrhein-Westfalen. Er war ein Polizist, ein Cop - oder im Ruhrgebietsjargon ein Bulle!
Sie ließ ihren Blick tiefer schweifen, bis auf seine Hüften. Die Jacke war nicht zugeknöpft, sondern hing lose an seinem Körper herab, und sie konnte das, wie hieß es noch, Halfter sehen? Halfter hörte sich so nach Pferd an, vielleicht sollte sie es einfach Futteral nennen. Auch so ein blöder Ausdruck, hatte doch gar nichts mit Aal zu tun. Darüber musste sie lächeln. Jedenfalls schmiegte sich das Futteral aus Kunststoff zärtlich an seine Hüfte, und in dem Futteral steckte verlockend die Waffe.
Fasziniert starrte sie die Waffe an. Sie war klein, aber massiv, und vor allem wirkte sie tödlich und schön. Ihre Struktur war zart geraffelt und schimmerte grünlich. Was für ein wundervolles Stück von einer Pistole!
Es war doch eine Pistole? Hmm, mit Sicherheit war es kein Revolver. Revolver sahen rundlicher aus, nicht so rationell schlank.

Deer Hunter, dieser unglaublich lange Anti-Vietnam-Kriegsfilm mit Robert de Niro kam ihr in den Sinn. Diesen Film hatte sie nie ganz gesehen, weil es da wohl einen eingebauten Knackpunkt gab, und zwar direkt am Anfang, als diese endlose Hochzeit gefeiert wurde, war es eine italienische Hochzeit oder eine russische? Egal, jedenfalls Knack! Eingeschlafen und mindestens zwei Stunden süß geschlummert, denn es war ein sehr sehr langer Film...
Und immer wachte sie an der gleichen Stelle auf, geweckt vom Klicken im Trommelmagazin eines Revolvers – genau, so hieß das, Trommelmagazin! Da spielte nämlich jemand Russisches Roulette in einer Spelunke in Saigon.
Klick! PENG! Glück gehabt.
Klick! PENG! Pech gehabt. Oder Glück?

Sie schleicht sich unauffällig an ihn heran, als Polizist hat er bestimmt gute Reflexe, aber diese Aktion wird ihn total überraschen.
Sie steht nun direkt hinter ihm, sie überlegt nicht mehr, sondern zieht ihm mit einem unmerklichen Ruck die Waffe aus dem Futteral und tritt schnell drei Schritte zurück, um einen Sicherheitsabstand zu gewinnen.
Er dreht sich völlig verblüfft zu ihr um und glotzt sie fassungslos an.
Sie denkt an nichts mehr, sondern handelt instinktiv. Sie hält sich die Waffe an die rechte Schläfe und drückt ab.
Klick! PENG! AUS!
Mist, nichts passiert!
Die verdammte Pistole hat eine Sicherung! Das ist... so hinterhältig! Wenn sie es nicht schafft, die Sicherung auszuschalten, dann... Sie fuchtelt mit der Pistole herum, und mehrere Fahrgäste werden schon aufmerksam auf sie. Sie hasst Aufmerksamkeit, fühlt sich in die Enge getrieben...
Aber keiner traut sich an sie heran, sie haben alle Schiss vor der Waffe, dabei ist die Waffe doch eine Erlösung. Sie sucht krampfhaft nach der Entsicherung, aber sie kann sie nicht finden. Weiber und Technik...

Ach du lieber Himmel! Sie hätte sich total lächerlich gemacht.
Mist, Mist, Mist, es wäre die Möglichkeit gewesen. Was lag denn noch vor ihr? Sie wurde alt, obwohl sie nie damit gerechnet hatte. Alle Illusionen der Liebe hatte sie schon durchlebt, und es war nie das Richtige gewesen. Schleichend und leise würde das Alter kommen und mit ihm all die damit verbundenen Krankheiten und Abnutzungserscheinungen.
Irgendwann würde sie vielleicht in einem Pflegeheim landen. Das erschien ihr als die Schlimmste aller Möglichkeiten.
Immerhin würde sie dort nicht auf ihre Kinder warten, das würden andere alte Leute tun. Sie war kinderlos, vielleicht, weil sie nie den richtigen Mann gefunden hatte? Der einzige, von dem sie eventuell... Aber sie hatte es ja selber vermasselt. Wie dumm, wie dumm! Wenn man nur die Zeit zurückdrehen könnte! Aber auch das war Illusion, es würde immer wieder so ablaufen, das Leben ergab sich leider nicht aus der Erfahrung, sondern aus unergründlichen Zufällen und Zuständen. Nichts war mehr zu ändern und hätte auch zu keiner Zeit geändert werden können. Kein Murmeltier, keine Chance...
Was also zum Teufel hinderte sie daran, die Pistole zu nehmen und sich auf der Stelle zu erschießen?
Aber sie konnte es nicht. Obwohl der matt geraffelte Griff der Waffe sie magisch anzog, konnte sie es nicht tun.


An der nächsten Haltestelle stieg der Polizist aus. Und sie fühlte sich darüber erleichtert. Wer hätte den Kater gefüttert und ihm seine Insulinspritze gegeben, wenn sie diesem Impuls gefolgt wäre? Wenn sie jetzt tot wäre? Oder wenn sie nicht tot wäre, sondern man sie auf irgendeiner Polizeiwache verhören würde? Wie peinlich...
In diesem Augenblick kam eine SMS an, und sie las: „schwesterchen, muss dich unbedingt sprechen, der schatten auf der lunge, weißt du noch?“
Klar wusste sie es noch, sie hatte es schon befürchtet an dem Tag, als ihre Schwester diese Untersuchung mitmachte. Und ausgerechnet an diesem Tag hatte sie so glücklich ausgesehen... Verdammt, verdammt!
Also nach Hause zu Mann und Kater. War ja auch ganz nett... Und Himmel, was hatte sie eigentlich für Probleme?
 

http://www.webstories.cc 05.05.2024 - 13:34:58