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Velon - 01 Der Beginn

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© R. Umbristo   
   
„Los, Velon! Hier entlang!“ Chris packt Velon an der Hand und zerrt ihn schnellen Schrittes in Richtung des Tempels. Hinter ihnen wurden die Schemen von den lauten Schritten aufmerksam und jagen den Geruch der beiden Halbelfen hinterher.
„Was sind das für Wesen?“, fragt Velon.
„Nicht jetzt! Schau nicht zurück und halte Schritt!“ Chris rennt los und reißt seinen Schüler mit sich. Die schweren Taschen schlagen gegen die Körper und keuchend hetzen die beiden die vielen Stufen zum Tempel hinauf. Die Schemen halten vor den Stufen, dort, wo die geweihten Flammen brennen und lassen einen markerschütternden Schrei durch das Viertel ziehen. Velon schaut hinunter und sieht, wie die Schatten von einer Gruppe klerikaler in einem Kreis gehalten werden und sie sich langsam unter den Tropfen von Weihwasser aufzulösen beginnen. Mit einem bestimmten Ruck zieht Chris ihn wieder zu sich und eilig begeben sie sich in das Nebenzimmer des Altarraumes.
„Warte hier, ich hole Erik.“
Velon beruhigt seinen Atem und sieht sich im Raum um. Viele Bücher über Götterkulte, Gesangs- und Gebetsbücher, Tagebücher von Heiligen und diverse einzelne Schriftstücke sind in Regalen gestapelt, sowie die verschiedenen Ersatzgewänder der Priester und Tempeldiener.
Er sieht noch einmal in seine Taschen und überlegt, ob er nicht noch etwas vergessen haben könnte: Die Bücher seiner Akademiezeit, seine Roben, die wichtigsten Bücher seines Vaters, das Hochzeitsportrait seiner Eltern, den Schmuck seiner Mutter – die wichtigsten Gegenstände hat er bei sich. Chris meinte, er würde nicht mehr brauchen als die Dinge, die für ihn einen sentimentalen Wert hätten - und da hatte er recht.
Dieser betretet das Zimmer wieder mit Erik, einem sehr zurückhaltenden Menschen, den Velon seit seiner Kindheit kennt. Auch über zwanzig Jahren hinweg scheint er aber keineswegs gealtert, genauso wie Chris.
„Ich grüße dich, Velon.“, sagt Erik sehr leise mit gesenktem Blick. „Ich werde euch beiden helfen, in die andere Welt zu kommen. Habt Ihr alles, was ihr braucht?“ Er und Chris schauen zu Velon.
„Ja. Ja, ich habe alles.“
„Gut.“
Erik nimmt eine Phiole aus seiner Gürteltasche hervor und verreibt die Flüssigkeit in seinen Händen. Velon und Chris stellen sich vor ihm.
Mit erhobenen Händen spricht Erik nun mit sehr kraftvoller Stimme: „Im Namen der großen Götter dieser und der anderen Welt: Mögen sie euch den Weg bereiten und sicher in die andere Ebene geleiten. Möge das Licht über euch wachen und den rechten Pfad weisen.“ Er nimmt seine Hände und legt sie auf Chris' und Velons Stirn. „Das Licht und die Götter sind mit euch. Möget ihr in der anderen Welt ein besseres Leben finden. Schließt nun die Augen.“
Velon spürt nun, wie er leichter wird, als ob er beginnen würde, sich aufzulösen. Ganz leise, als ob es von mehreren Schritt Entfernung kam, nimmt er noch ein undeutliches „Lebt wohl“ war. Es fühlt sich an, als würde sich sein Körper ins Unendliche ausdehnen und sich explosionsartig wieder zusammenziehen. Noch bevor Velon seinen Körper richtig wahrnehmen kann, verliert er seinen Halt und stürzt auf einen harten Boden. Er versucht seine Umgebung abzutasten, die Augen zu öffnen ist ihn noch zu riskant, da spürt er eine Hand, wie sie unter seine Schulter greift und ihm hilft, sich aufzurichten. Diese Hand drückt ihn an einen Körper mit vertrauten Geruch und eine ebenso vertraute Stimme sagt: „Velon, du kannst die Augen nun öffnen.“


Vorsichtig tut er dies und findet sich vor Chris in seiner Wohnung in München wieder. Nicht das geringste deutet darauf hin, dass die beiden noch vor kurzem im Tempel in Narrah standen, bis auf ihre Ausrüstung und die leicht feuchte Stirn von Eriks Substanz. Es ist nicht das erste Mal, dass Velon eine Reise in diese Welt unternommen hat, doch war der Vorgang der Materialisierung noch nie so heftig wie jetzt. Chris meinte, es sei ein Nebeneffekt, wenn man zu häufig reisen würde.
„Aber nun Chris: Was waren das für Wesen?“
„Schemen. Ehemalige Kultisten, die sich rituell ermordeten, um als Geist weiterzuleben. Meist mit einem Sektenkult oder teilweise mit archaischen Religionen in Verbindung zu bringen. Für genaueres frage bitte Merton.“
Velons Gedanken darüber werden durch einen Lufthauch zerschnitten, der durch das Fenster die rauchige und verstaubte Luft der Großstadt herein trägt. In gewisser Weise hatte er den Geruch vermisst, den Geruch der Moderne.

„In zwei Monaten meinte Chris, würde meine Fortbildung in der Psychiatrie beginnen. Dann könnte ich bei ihm in der Klinik arbeiten und ganz in dieser Welt leben.“

Er geht auf den Balkon und atmet die Luft Haderns bewusst ein. Ein dichter, grauer Himmel, breite, asphaltierte Straßen, hupende Autos und in jeder Straße mindestens ein ausländisches Restaurant.

„Ja, dies wird meine neue Heimat sein... endlich.“
 

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