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Velon - 02 Von Studien und der Vergangenheit

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© R. Umbristo   
   
Der Professor skizziert die verschiedenen Erscheinungsformen von Depressionen auf einer Folie, das Bild wird von einem Projektor auf die großflächige Wand geworfen.
„Das besonders gefährliche an manisch-depressiven ist die Zeit des Übergangs. Wenn entweder der Übereifer oder das hohe Aktionspotential der manischen Phase noch nicht abgeklungen ist, der Patient aber dennoch bereits die suizidalen Gedanken der Depression entwickelt, oder aber der Depressive mit dem zu geringen Aktionspotential durch die ansteigende Manie langsam an mehr Antrieb gewinnt und sich in dieser Phase dazu erheben kann, sich umzubringen. Aus genau diesem Grund müssen manisch-depressive Patienten, besonders wenn sich die Übergangsphasen zeigen, strengstens überwacht werden, um im Falle von Suizidversuchen rechtzeitig eingreifen zu können, wenn nicht bereits durch eine medikamentöse Therapie präventiv vorgesorgt werden konnte.“

„Seroquel als Basismittel mit Nebenwirkungen, die sich vor allem als allgemeine Hirnsymptome und Kreislaufbeschwerden äußern. Weiteres beliebtes Medikament ist Lamotrigin, das sich eher negativ auf Schlafverhalten, Libido und seltener Verdauungssystem auswirkt und bei einigen Patienten anfangs zu Hautreizungen führt.“

In Gedanken geht Velon noch weitere Medikamente durch und wiederholt somit sein Wissen vom Pharmazie-Studium. Eigentlich könnte er jetzt in der Forschungsabteilung einer größeren Firma sitzen und Berichte über die Wirkungsweisen neuer Tester verfassen und sich davon eine eigene Wohnung finanzieren. Doch als er merkte, dass sich das Wissen der Pharmazie nur schlecht mit der Alchemie der anderen Welt verbinden ließ, was schließlich seine Hauptmotivation für dieses Studium war, willigte Chris ein und finanzierte ihm zudem ein Medizinstudium. Medizin ist unabhängig von Technik und Medikamenten, wenn man weiß wie – das ist eines der ersten Dinge, die Velon von Chris lernte. Chris spezialisierte sich im Bereich der Unfallchirurgie und ist in der anderen Welt als Feldarzt tätig. Zudem lernte dieser von seiner Mutter, der elfischen Linie seiner Herkunft, vieles über druidische Behandlungsmethoden und macht sich somit noch ein Stück mehr von der Moderne unabhängig.
„Irgendwann wird auch hier die Welt zusammenbrechen. Hier wird wohl eher ein Weltkrieg, eine Seuche oder eine Rebellion die Gesellschaft bedrohen, aber was auch immer der Beginn ist: es wird in einer Neuordnung enden, wenn die Gesellschaft zusammenbricht. Und niemand kann garantieren, dass alle Errungenschaften der Moderne bestehen werden und somit tun wir alle gut daran, davon so unabhängig zu sein, wie möglich. Gerade in unserem Gewerbe.“, das hat Chris inzwischen so häufig gepredigt, dass Velon dies wohl als Mantra aufsagen könnte.

„Er hat nicht ganz unrecht. In der anderen Welt bin ich nicht überlebensfähig. Mein Akademiewissen der Mantik ist im Krieg nutzlos, wenn ich ein Schwert halten müsste und ich bin zu unfähig in der Alchemie, als dass ich einen nützlichen Heiltrank brauen könnte. Das einzige, das mir irgendeine Existenzberechtigung gäbe wäre wohl wirklich, wenn ich mich weiterhin wie Chris als Feldarzt versuche.“

Velon schüttelt bei dem Gedanken den Kopf. Für Operationen ist er nicht geeignet, das weiß er spätestens, als er sich nach einer Obduktion während der Hospitationszeit übergeben musste. Er will das Wissen seines vorigen Studiums anwenden können und lieber Menschen mit neurologischen Problemen helfen. Die Fortbildung zum Psychiater war für ihn die beste Option, denn als Neurologe wäre er vermutlich auch wieder in der Forschung gelandet. Außerdem mag er die Pathopsychologie und Psychosomatik. In diesen Bereichen konnte er sogar den ein oder anderen Zauber seiner Magierausbildung anwenden und dadurch hat er schon mehr als einmal bei einem Patienten mit Halluzinationen wahrnehmen können, dass er tatsächlich von zwei Wesen umgeben war, die auf ihn einredeten.

„Vielleicht hätte ich noch bei einem Kleriker lernen sollen, damit ich auch weiß, wie man solche Wesen exorziert...?“

Der Lehrer beendet die Stunde und hastig schreibt Velon noch die letzten Anmerkungen von der Folie ab und hastet aus dem Hörsaal. Er schlendert nach draußen, nimmt auf einer Bank platz und ruft Chris in seinem Büro an.
„Hallo, Chris. Wie lange bist du heute noch in der Klinik?“
„Vermutlich noch bis um 10. Komm einfach vorbei, wenn dir langweilig ist, ich hab ein paar Sachen einzusortieren und aufzuräumen, dann können wir auch gleich mit den Untersuchungen weitermachen.“
„Ist gut, ich bin gleich da.“
Jeden Abend nach der Uni besucht Velon Chris in der Klinik, wenn dieser nicht völlig im Stress ist und erledigt für ihn Arbeiten, die nebenbei anfallen. Im Gegenzug dafür lernt er von Chris den Umgang mit den Geräten, darf sich Fachbücher von ihm ausleihen und bekommt von ihm Fallbeispiele erklärt. Besonders während des Medizinstudiums war dies sehr hilfreich und auch wenn er es nicht mit Bestnoten abgeschlossen hat, ist er trotzdem sehr stolz auf seinen Abschluss Cum Laude und Chris belohnte ihn damit, dass Velon bei ihm wohnen darf und dass er sein weiteres Studium finanzierte.
Velon begibt sich zur U-Bahn und ist noch immer fasziniert von den verschiedenen Menschen, die sich hier tummeln. Menschen unterschiedlichster Herkunft, in verschiedenen Kleiderstilen, von wohlhabenden Geschäftsleuten bis zu Bettlern mit kleinen, verstruppelten Hunden und das alles an einem Platz. Und die ganze Stadt hat noch weitaus mehr zu bieten!
Doch bis Velon sich hier eingelebt und sich beruflich gefestigt hat, möchte er die Erkundung der Stadt auf ein anderes Mal verschieben. Zu viel Ablenkung ist nicht gut, besonders während der Studien. Das hat sein Vater einmal zu ihm gesagt.

„Mögest du an der Seite der Götter ruhen. Ich hoffe, du bist stolz auf mich.“

Schnell verdrängt er die Gedanken an seinen Vater und denkt an den heutigen Unterrichtstsoff. Seit seinem dritten Jahr an der Magierakademie gilt sein Vater als im Krieg gefallen und bis heute hat er sich nicht mit seinem Tod auseinandergesetzt, da er ständig in Studien verwickelt war, die seine Aufmerksamkeit bedurften. Und zu viel Ablenkung ist schließlich nicht gut für die Studien...
An der Klinik angekommen steuert Velon direkt auf Chris' Büro zu, das zugleich auch Behandlungszimmer ist, und nach mehrmaligem Klopfen wird die Tür geöffnet.
„Tut mir leid, ich musste noch die Ergebnisse abspeichern und der Computer spinnt.“
„Kein Problem. Die von der Uni wollten übrigens doch nur das psychologische Gutachten von mir.“
„Oh. Nun zumindest haben wir jetzt auch die anderen Werte schon mal untersucht, das schadet auch nicht. Möchtest du, dass wir trotzdem noch die anderen Tests machen?“
„Klar, warum nicht? Wenn ich schon eine kostenlose, allumfassende Untersuchung bekommen kann, sollte ich das nutzen.“
Chris grinst und setzt sich wieder an den PC. „Besser machen wir aber erst morgen weiter, sonst werden wir heut' nicht mehr fertig.“
Velon begibt sich zu einem Stahlwägelchen, auf dem medizinisches Geschirr wüst herumliegt und Gefäße in kleinen Metallwannen liegen. „Dies alles zur Sterilisierung?“
„Ja.“
Er zieht sich ein Paar Schutzhandschuhe über und rollt den Wagen aus den Büro ein paar Zimmer weiter zur Reinigungsstation des Stockwerks. Die Skalpelle und Nadelspitzen wirft er in den Sondermüll.

„Warum nimmt er denn die Skalpelle immer zum Brieföffnen her? Das ist doch Verschwendung.“

Die Gläser und die restlichen Metallgeräte kommen in eine große Wanne mit Desinfektionsmittel und nach etwas Einwirkzeit legt Velon sie unabgetrocknet auf dem Tisch neben der Dampfkammer. Das Hygienefachpersonal ist dafür zuständig, die Kammer zu bedienen und so macht er sich auf den Weg zurück ins Büro und beginnt die ersten Patientenakten zu sortieren.
„Wir können übrigens doch etwas früher gehen. Ich hätte eigentlich in einer Stunde noch einen kleineren chirurgischen Eingriff gehabt, aber Herr Hisherat hat den Patienten von mir übernommen, er braucht eh noch Überstunden.“
„Oh, okay.“ Velon fällt auf, dass einige Dokumente nicht vollständig ausgefüllt sind und legt für diese Akten einen eigenen Stapel an. Die restlichen ordnet er in Chris' Aktenschrank ab und beginnt anschließend mit dem Reinigen der Oberflächen. Als er die Patientenliege desinfiziert, geht ihm Chris zur Hand und reinigt die metallischen Oberflächen.
„Danke übrigens für deine Hilfe.“
Davon ganz überrascht schaut Velon zu Chris, der ganz von der Reinheit des Wasserhahns besessen zu sein scheint. „Kein Problem. Du hilfst mir ja schließlich auch genug.“
„Ja, aber...“ Für einen Moment lässt er den Wasserhahn Wasserhahn sein und schaut zu Velon. „Das heißt ja nicht, dass du mir in der Arbeit helfen musst.“
„Doch, eigentlich schon. Denn ich soll nach dem Studium ja auch hier arbeiten und da ist es das mindeste, dass ich dir dabei helfe.“
Schweigend widmet er sich nun wieder dem Waschbecken und erst, als die beiden die Arbeitsfläche zusammen reinigen, bricht er die Stille. „Trotzdem danke.“
Verwirrt schaut Velon ihn an, lächelt aber schließlich. „Wie ich schon sagte: Kein Problem. Ich hab dir so viel zu verdanken, da ist das wirklich das Mindeste.“
„Was verdankst du mir denn alles?“, fragt Chris teilnahmslos.
Nun ist Velon wirklich überrascht. „Du hast mir geholfen, einen Weg in die Medizin zu finden. Zuerst durch deine Hilfe in der Alchemie, dann durch die Assistenz bei dir und die Studien, die du mir bezahlt hast. Durch dich bin ich auch erst in diese Welt hier gekommen, ohne dich wäre ich wohl längst tot. Außerdem bietest du mir neben den Studien auch eine Wohnmöglichkeit und unterstützt mich, so gut du kannst. Du bist ein wirklich guter Freund für mich.“
Nun ist auch Chris sichtlich überrascht. „Bin ich wirklich dein Freund?“ Er fasst Velon an der Hand und schaut ihn tief in die Augen.
„Ja, ich denke schon. Warum denn auch nicht? Spricht da was dagegen?“
„Nun... du kennst mich schließlich schon seit deiner Geburt. Ich war es, der dich entbunden hat. Ist das nicht etwas seltsam?“
Velon lächelt in diesem Moment. Chris ist tatsächlich um vermutlich hunderte Jahre älter als er, sieht aber noch immer aus wie Ende zwanzig, was schon einige Male zu Verwirrungen geführt hat. „Nein, nicht wirklich. Ich meine, als ich ein Kind war, hatten wir beide nicht viel gemeinsam. Es ist für mich so, als hätte ich dich erst nach dem Magiestudium kennengelernt.“
„Ich verstehe.“ Er senkt den Blick. „Das ist gut.“ Chris legt die Handschuhe ab und wirft sie in den Müll, anschließend legt er seine Hände auf Velons Schultern. „Velon...“
„Ja...?“, dieser schaut Chris verwirrt an, als er von ihm umarmt wird. Als sich die Umarmung löst, haucht Chris Velon einen sanften Kuss auf die Lippen.
Wie erstarrt verbleibt Velons Blick in der Verwirrung und erst nach einem Moment beginnt auch Chris' Mimik sich zu verändern, als wäre er von sich selbst schockiert. „Es tut mir leid, bitte vergiss, was geschehen ist.“, murmelt er und rennt aus dem Zimmer. Langsam trottet Velon hinterher und wartet am Ausgang der Klinik auf Chris.

„Was war das eben? Er hat mich geküsst, aber warum? Und warum hat er sich entschuldigt? War der Kuss nicht freundschaftlich gemeint? Aber warum sollte ich ihn dann vergessen?“

Es dauert nicht lange, da kommt auch Chris aus der Klinik. „Wir sollten uns beeilen, dann schaffen wir die Bahn um halb noch.“
Und so hasten die beiden zur nächsten Untergrundstation. Die Unterhaltungen an diesem Abend waren nur noch oberflächlicher Natur, wie der heutige Unterricht, der Ablauf in der Klinik, was man denn heute noch essen wolle und dergleichen. Keiner von den beiden sprach den Kuss an und es war tatsächlich, als wäre nie etwas passiert.
 

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