... für Leser und Schreiber.  

Einer von vielen

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© Rosalina Brand   
   
Den Merkzettel, den er beim Arztbesuch erhalten hatte, warf er beim Nachhauseweg in den ersten Abfallkübel der ihm begegnete. Die Ärztin hatte ihm ja alles gesagt was er wissen musste.

„Ich gebe Ihnen noch dieses Merkblatt mit, damit Sie zu hause alles nochmals in Ruhe durchlesen können.“

Sie hatte ihn zur Praxishilfe begleitet und die Medikamente bereit gemacht. Die Tabletten steckten nun in seiner Manteltasche. Eine Tablette aus der roten Schachtel am Morgen, nach jeder Mahlzeit eine aus der weißen Schachtel. Das konnte er sich merken, auch ohne die kleine Etikette, die sie zur Erinnerung auf jede der Packungen geklebt hatte. Nein, er war nicht dumm, hatte ein gut trainiertes Gedächtnis, auf das er sich jederzeit verlassen konnte.

„Falls sie noch weitere Informationen brauchen, finden sie diese im Internet, die Webseite ist hier angegeben,“ die Ärztin hatte dabei auf ein paar Zeichen am unteren Rand des Papiers gezeigt.

Internet. Wie er dieses Internet hasste. Er brauchte kein Internet, wozu auch. Er brauchte auch keines dieser iPhones. Es ärgerte ihn, wie alle im Zug, in dem er zur Arbeit fuhr, auf diese Dinger fixiert waren. Oder auf die Gratiszeitung, hinter der sie ihren Kopf versteckten. Früher hatte man noch mit dem Einen oder Andern ein paar Worte wechseln können, heute waren sie alle beschäftigt auf der kurzen Zugfahrt.

Oder kamen sogar mit dem Auto zur Arbeit. Er brauchte kein Auto, obwohl ihm manche Autos sehr gut gefielen. Er sagte sich, dass der Zug viel bequemer sei. Da brauchte er sich nur die Monatskarte am Schalter seines Arbeitsortes zu kaufen und war alle Transportprobleme los. An seinem Wohnort war der Schalter schon lange geschlossen und durch einen Billetautomaten ersetzt. Was sollte er mit einem Billetautomaten? Im Notfall half die Ausrede von der vergessenen Brille, das machte es leichter um Hilfe zu bitten.

Um Hilfe zu bitten, weil er weder lesen noch schreiben konnte. Er schämte sich, er hatte sich schon in der Schule dafür geschämt, hatte schon dort gelernt, seine Schwäche beinahe perfekt zu verstecken. Er schämte sich vor all den Anderen, die so selbstverständlich mit den Zeichen umgehen konnten, mit diesen Buchstaben und Sätzen, die ihm verschlossen blieben. Ihm, als Einzigem.

Er wusste nicht, dass er Einer von Vielen war. Einer von etwa 800’000 Illettristen in seinem Land. So war es in der Zeitung gestanden, und dass es auch in seiner Region Angebote gab, das Verpasste im Erwachsenenalter zusammen mit anderen Leidensgenossen nachzuholen.

Aber wie hätte er dies wissen sollen, er konnte ja nicht lesen und keiner wusste davon.
 

http://www.webstories.cc 28.03.2024 - 19:31:25