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Von den zwei Flüssen (Zen-Fabel)

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© Frank Bao Carter   
   
Einst machte sich der Fluss Zufriedenheit auf den Weg zum Tal auf. Er wollte nicht länger nur oben im kargen Gebirge des Himalaya bleiben. Wie er in tiefer gelegene Regionen kam, nahm die fruchtbare Erde dankend seine Wasser auf. Der Fluss erfreute sich an dem Leben, dass an seinen Ufern entstand. Uneigennützig, wie er war, verlangte er von der Erde und den Pflanzen keine Gegengabe.
Zur selben Zeit kam ebenfalls im Himalaya der Fluss Freiheit auf den Gedanken, sich die Welt weiter anzuschauen und talwärts zu wandern. Schnell erblühten an seinen Ufern reichhaltige Ländereien mit vielen Pflanzen, Tieren und Menschen. Uneigennützig, wie er war, gab er von Herzen gerne ohne je eine Gegengabe zu verlangen.
Wie der Zufall es wollte, trafen die beiden sich genau in dem Moment, wo sie aus dem Wald in die große und weite Ebene hinaus traten.
Der weibliche Fluss Zufriedenheit war sofort fasziniert von der Attraktivität des männlichen Flusses Freiheit und fühlte sich sehr stark zu ihm hingezogen. Dem Fluss Freiheit erging es nicht anders: Nie zuvor hatte er eine so wunderschöne Frau gesehen. Sie unbedingt in seine Arme zu nehmen, war sein einziger Gedanke.
Zärtlich und schüchtern setzten sie sich in die Wiese und begannen von sich zu erzählen und sich gegenseitig kennen zu lernen. Dabei merkten sie sehr schnell, wie Seelen verwandt sie waren und mit wie viel Leichtigkeit, Freude und Zuversicht sie die Welt beschenkten. Und wie sie sich innig küssten, kamen sie überein, dass ihr Kind von nun an ihre beiden besten Gaben zusammen weiter in die Welt tragen möge und gaben ihm den Namen Frieden.
Der Fluss Frieden begann sich in vielen Schleifen durch das breite Tal zu winden. Zufrieden schaute das jung verliebte Paar dem Wachsen ihres Kindes zu.
Und schon nach ein paar Jahren war in der Ebene ein reichhaltiges und fruchtbares Land entstanden, wie es die Welt nie zuvor gesehen hatte. Für Mensch und Tier gab es genug zu essen und auch die Pflanzen wuchsen in einer nie gesehenen Üppigkeit und Vielfalt. Niemand musste sich streiten oder bekriegen.
* * * *
Eines Tages jedoch ging eine Abordnung von Menschen hin zum Fluss Zufriedenheit, um ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Der Fluss sollte sein Wasser einzig den Menschen geben, damit sie es unterirdisch in ein anderes Tal umleiten könnten, wo sie mittels riesiger Turbinen elektrischen Strom gewinnen wollten.
„Was aber wird aus den Pflanzen und Tieren an meinen Ufern“, fragte der Fluss, „wenn ich ihnen mein Wasser nicht mehr geben kann.“
„Wir werden mit unserer Elektrizität noch viel mehr Wohlstand schaffen als Du es allein mit deinem Wasser vermögest“, beschwichtigten die Menschen, „und uns um diejenigen kümmern, die an Deinen Ufern leben. Außerdem sollst Du uns ja nicht Dein ganzen Wasser abgeben, sondern lediglich neunzig Prozent. So bleibt für die anderen mehr als genug übrig.“
„Das kann ich nicht machen“, versuchte Frau Zufriedenheit Zeit zu gewinnen. „Die Pflanzen und Tiere schenken mir so viel Dankbarkeit und Liebe. Ich nähre sie. Unmöglich kann ich sie enttäuschen.“
„Aber von Dankbarkeit und Liebe allein kannst Du Dir nichts kaufen. Wir geben Dir bares Geld für Dein Wasser. Wir werden uns wirklich erkenntlich zeigen für Deine Gaben und mit unserem Geld könntest Du Dir schöne Kleider, teures Parfüm und feinste Sachen zum Schminken kaufen, um Deinen Mann noch besser zu gefallen. Besonders jetzt, wo Du in ein Alter kommst, da ein gutes Make Up die Zeichen einer alternden Haut übertünchen kann. Oder soll Dein Gemahl sich nach einer Jüngeren umschauen?“
So hatten es die Menschen geschickt verstanden, ihr erst Angst und Sorge einzutrichtern und sodann den rettenden Schlüssel darzureichen. Die Sorge, ihren Mann zu verlieren war bestimmender für ihr Handeln, als ihr Wunsch, sich um die Pflanzen und Tieren an ihren Ufern zu sorgen. Und letztendlich lockte die Vorstellung, sich mit dem Geld, das sie verdienen würde, eine rosige Zukunft zu verschaffen. Sachen, auf die sie ihr ganzes Leben lang verzichtet hatte, schienen plötzlich realisierbar: Teure Kleider, fröhliche Feste, gutes Essen und Trinken, neue Freundinnen und Freunde.
So willigte sie letztendlich schweren Herzens ein und unterschrieb den Vertrag.
* * *
Es begab sich, dass zu der gleichen Zeit eine andere Abordnung von Menschen zu dem Fluss Freiheit aufgebrochen war, um mit ihm ebenfalls ein Geschäft abzuwickeln. Der Fluss sollte sein Wasser in ein anderes Tal umleiten, wo die Menschen es dringender brauchten. Maschinen mussten angetrieben werden, die Waffen produzieren sollten. Riesige Baumplantagen mussten gewässert werden, die das Holz für diese Waffen zu liefern hatten.
„Was aber wird aus den Pflanzen und Tieren an meinen Ufern“, fragte der Fluss, „wenn ich ihnen mein Wasser nicht mehr geben kann.“
„Wir werden mit unseren Waffen neue Länder und neue Flüsse erobern und somit viel mehr Wohlstand für die Region an Deinen Ufern schaffen, als Du es allein mit Deinem Wasser vermögest“, beschwichtigten ihn die Menschen. „Außerdem musst Du uns nicht Dein ganzes Wasser verkaufen. Wir möchten nur neunzig Prozent. So bleibt für die anderen noch mehr als genug übrig.“
„Das kann ich nicht machen“, versuchte Herr Freiheit Zeit zu gewinnen. „Die Pflanzen und Tiere schenken mir so viel Dankbarkeit und Liebe. Ich nähre sie. Unmöglich kann ich sie enttäuschen.“
„Aber Dankbarkeit und Liebe ist sehr wenig, was sie Dir geben, findest Du nicht auch. Wenn Du Dich uns anschließt, könntest Du mit unserem Geld und mit der Macht, die Du dazugewinnen würdest, Dir endlichen Sachen erarbeiten, die Dir bisher verschlossen geblieben sind. Du könntest neuen Landbesitz dazu gewinnen, teure Autos fahren, in schicken Anzügen den jungen Frauen imponieren. Sieh Dich an: Du bist im besten Alter, um Dir eine junge und hübsche Freundin nehmen zu können – was Dir fehlt, ist einzig und allein Dein Ansehen und Geld.“
So hatten es die Menschen geschickt verstanden, in ihm Eitelkeit und Sehnsüchte zu wecken und zugleich die Lösung angeboten, wie diese Wünsche befriedigt werden könnten. Plötzlich war es ihm wichtiger, sich um eine neue und jüngere Frau sorgen zu wollen, als die Sorge um die Pflanzen und Tiere an seinen Ufern zu tragen. Fast schon leichten Herzens unterschrieb er den Vertrag.
* * * *
Und so kam es, wie es kommen musste. Frau Zufriedenheit und Herr Freiheit zerstritten sich aufs Tiefste und gingen letztendlich getrennte Wege.
Das wenige Wasser, was sie nicht den Menschen abtraten, reichte mitnichten aus, das Leben an ihren Ufern aufrecht zu halten. Nach zwanzig Kilometern schon war der kleine Bach ein Rinnsal geworden. Nach weiteren zwanzig Kilometern war er gänzlich verschwunden. Menschen und Tiere, die an seinen Ufern lebten, zogen fort und viele Pflanzen mussten elendig sterben.
Eben sowenig waren die Hoffnungen in Erfüllung gegangen, die sich die beiden mit dem Verkauf ihres Wassers gemacht hatten. Frau Zufriedenheit konnte weder ihren Gemahl halten noch sich die ewige Jugend erkaufen. Kaum anders war es Herrn Freiheit ergangen. Junge Dinger wollten von ihm nichts wissen und seine arrogante und ignorante Herrschsucht trieb ihn immer weiter ins gesellschaftliche Abseits.
Dieses erkannt, begab er sich im Alter noch einmal auf die Wanderschaft hinunter zu der Ebene, in der er damals als Jüngling seine Gemahlin getroffen hatte. Wie er aus dem Dornengestrüpp hinaus in die Ebene trat, erschrak er zutiefst.
Vor ihm sah er eine alte, gebrechliche Frau stehen, die den Rücken ihm zugewandt hatte und reglos hinaus in die Ebene starrte. Und er wusste sofort, dass diese Frau der Fluss Zufriedenheit war, oder besser gesagt das, was von ihm übrig geblieben war.
Wie er neben sie getreten war und in ihre Augen blickte, spiegelte sich darin die tote und trostlose Ebene, die vor ihnen lag. Nicht ein einziger Strauch war mehr zu sehen. Überall nur noch karges, durch die Sonne verbranntes Gestein und Sand. Durchfurcht wurde diese Ebene durch ein an seinen Rändern zersplittertes Tal, welches sich mäanderförmig eine Weg Richtung Meer bahnte. Ihr Kind Frieden war schon lange ausgetrocknet.
„Hast Du schon gehört, welchen neuen Namen sie unserem Kinde gegeben haben?“, fragte unvermittelt Frau Ehemals-Zufriedenheit, wobei ihr viele Tränen aus den Augen rannen.
Herr Ehemals-Freiheit schüttelte nur den Kopf, ohn-mächtig, sein Entsetzen in Worte fassen zu können. Erst jetzt wurde ihm die Reichweite seiner damaligen Entscheidung vollends bewusst.
„Grund des Krieges“, klärte sie ihn unter Schluchzen auf.
 

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