... für Leser und Schreiber.  

Souterrain der Seele, vierzehnte Folge, Johanna Ringena

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© Novalis Breton   
   
Lucien Fabre stand von seinem Frühstücksplatz auf, drückte seine Zigarette aus, klopfte die Sitzfalten seiner hellen Baumwollhose gerade und stieg eilig die Treppen der Terasse herunter, um Amanda zu folgen. Er verließ sich auf seinen, wie er meinte, untrüglichen Instinkt, wie er sich für eine Frau begehrenswert machen konnte. Schließlich hatte er eine jahrelange Erfahrung hinter sich. Lucien Fabre war ein gut aussehender Mann. Schlank, dunkelhaarig, gepflegt. Ein Frauenschwarm mit einer etwas aufgerauhten Stimme, die ihm einen Hauch von Abenteuer verlieh und die er je nach Situation einzusetzen wusste.
Er sprach sogar Deutsch mit einem unwiderstehlichen französischen Akzent.
Aber nicht nur sein Äußeres gab ihm eine beachtliche Attraktivität. Er war zudem ein renommierter Facharzt für Orthopädie in Fontainebleau, einem hübschen Ort in der Nähe von Paris. Dementsprechend verhielt es sich mit seinen Finanzen, die seinen Erfolg bei Frauen noch erheblich potenzierten. Er mochte um die 50 sein, kurz, alles an ihm hatte ihn sein Leben lang verwöhnt. Durchtrainiert durch sportliches Engagement hatte er Amanda bald eingeholt und
wendete einen seiner einfachsten Tricks an, um mit dem Objekt seines Begehrens ins Gespräch zu kommen.

Seine Frau, Monique, störte sein Verhalten schon lange nicht mehr, sie war Anwältin und lebte ihr eigenes Leben.
Die großzügige Villa, die sie beide kinderlos bewohnten, bot ausreichend Platz zum Ausweichen und von Zeit zu Zeit trafen sie sich sogar in ihrem Haus und sagten sich freundlich guten Tag. An Scheidung wurde nicht gedacht, denn das wäre zu aufwändig und teuer geworden. Außerdem bot so eine Ehe auch einen würdigen Schutz sowohl für Lucien als auch für Monique gegen eventuelle Bindungswünsche der Geliebten, die bei Affären natürlich zahlreich entstanden.

"Madame, excusez moi, dass ich Sie einfach so anspreche, das ist sonst nicht meine Art, aber ich glaube, Sie haben Ihr Portable verloren und ohne geht es heute nicht mehr", und er hielt mit seiner rechten Hand ein Handy hoch, das in der Sonne funkelte.
Amanda hatte sich umgedreht und lächelte ihn erstaunt an. Sie schüttelte den Kopf, weil sie gleich erkannte, dass dieses Handy ihr nicht gehörte. Lucien hatte immer ein ausrangiertes Handy dabei, für alle Fälle.
"Das ist sehr nett von Ihnen", sagte sie, "aber es gehört mir nicht." Sie kramte in ihrer Tasche und zog ihr eigenes Gerät hervor und zeigte es ihm.
Der Kontakt war hergestellt. Lucien Fabre sog den Duft ein, der von Amanda ausging, sie roch nach Jasmin und Flieder und er hätte sie am liebsten gleich in die Arme genommen, als sie da vor ihm stand und mit Schwung die Tür des Volvos öffnete. Lucien Fabre fand sich augenblicklich in eine Staubwolke gehüllt und sah Amandas strahlendes Gesicht mit den Grübchen in den Wangen hinter der Frontscheibe im Dunst verschwinden. Sie kurbelte die Seitenscheibe herunter und winkte ihm zu bis der schwere Volvo aus seinen Augen verschwand.
Er war verblüfft. Sie zeigte kein großes Interesse an ihm und das kannte er nicht.
Nun, er würde einen neuerlichen Versuch starten, gleich heute Abend, beim Diner.

In Seigné stand die Kirchentür offen und jemand trug etwas Verhülltes hinein. Amanda parkte ihren Volvo auf der Straße, ließ den Schlüssel stecken und eilte neugierig in das kleine Kirchenschiff.
Ein Mann mittleren Alters ging mit seiner Last im Arm vorsichtig, Schritt für Schritt auf die Nische zu, in der Amanda am Tag zuvor den Zettel gefunden hatte. Staunend sah Amanda, wie er eine kindshohe Figur enthüllte und sie in die Nische stellte. Es war eine dunkle Madonna, eine Marienfigur wie Amanda sie noch nie gesehen hatte. Ja, davon hatte Marguerite gesprochen. Das war keine sanfte,süße Mutter Gottes im blauen Gewand, das war eine kräftige Bäuerin, mit klaren und klugen Gesichtszügen, die ebenso gut eine Richterin hätte darstellen können. Das Jesuskind hatte einen kleinen, männlichen Körper und ein erwachsenes, weises Gesicht, das ernst und geduldig in die Ferne schaute. Wie absichtslos hielt es eine Kugel in der Hand, die Weltkugel.
Der Mann schlug ein Kreuzzeichen, als er die Figur abgestellt hatte, grüßte Amanda freundlich und verschwand. Amanda nahm ihn kaum wahr.

Durch die schmalen Seitenfenster drang kaum Licht, der Mann hatte die Tür leise hinter sich geschlossen. Eine Schwalbe hatte sich verirrt und flog unruhig hin und her, vom leichten Flügelschlag hallte das Gewölbe wider. Und als die Schwalbe einen Platz gefunden hatte, um auszuruhen, war es totenstill. Amanda wagte kaum zu atmen und starrte auf die dunkle Richterin. Es war ihr, als blickte sie ihr direkt ins Gesicht, als lächelte sie. Amanda schlug die Augen nieder.
 

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