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Die Küsse der Tenebricosa

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© Frank Bao Carter   
   
Hoch oben in der Blutbuche,
Das Blattwerk schwarz im Licht des Mondes,
Zwei riesige Schleiereulen, Tenebricosas,
Lauschend dem Klang der Schuhe.
Wandernde Seelen, jagend nach Schmerz,
Gekreuzigt am Pfahl der Verzweiflung:
Wo ist der Pfad, der Dunkelheit zu fliehen?
Wo der Stern, das Eis zu schmelzen?
Kalt sind ihre Seelen, verloren für immer,
Gonká und Ronja, frei und dennoch im Käfig,
Liebe? Nicht für sie.
Nur Finsternis
Und dieser unendliche Hunger.

Schritte knallen in der Stille,
Kein Geräusch, als Gonká den Kopf
Wendet auf ihrem Gefieder:
„Ein Mann“, zischt ihr Ruf einher
Mit dem Wind des Friedhofs.
„Jung obendrein.“ Leicht klappert der Schnabel,
Ronja ist aufgeregt, erregt, in Vorfreude.
Wandelnd im Fall, unwiderstehlich schön,
Ein Mädchen am Fuß der Buche,
Verführerisch im weißen Kleide.
„Erst die Lust“, flüsternde Worte;
Aus dem Geäst gelockt, die Freundin,
Sternenstaub, zur Erde rieselnd,
„Danach die Krönung.“ Gonkás Lächeln,
Gemeißelt in Leid.

Tarik, angezogen vom Vollmond,
Tiefe Schnitte in seiner Haut, rote Runen,
Wasser für seine Verzweiflung, unfähig,
Den Schmutz zu vertreiben, den Schmerz.
An jedem Kreuz, hinter jedem Grab
Hoffend, Sehnsucht zu finden; Erlösung.
Glückseligkeit wird zum Tod,
Das Paradies zur Lüge, menschenleer.
Aus dem Morast, zwei Irrlichter,
Blaues Licht flackert auf weißem Kleid,
So unschuldig, so verloren, so hübsch.
Ein Kuss auf jeden Mund.

Den Mann in ihren Armen sieht Gonká
Die sagenumwobene Reise ihrer Ahnen.
1796, Neuguinea, stolze Galeere,
Geladen Früchte, Tiere, Wasser, Erz,
Dem König zum Dank, dem Eroberer.
Doch unter den Säcken regt sich der Tod:
Tenebricosas, nicht Mensch, nicht Eule,
Geschöpfe der Finsternis,
Hungrig und wild.
Das hölzerne Schiff, ihre Speisekammer,
Der letzte Matrose ihr herzhaftes Mahl,
Führerlos gleitet das Schiff, die Segel eingeholt,
Durch windstille Nacht. Im Tauwerk hängend
Sieben Eulen, der Schrecken Amsterdams.

Die Beutejagd ist seitdem dieselbe:
Heiß ist der Kuss Ronjas, zart ihre Hand,
Auf Tariks Brust, auf seiner reinen Haut.
Sündhaft jung der Blick Gonkás,
Aus seinem Schritt schaut auf der Himmel,
Strahlend vor Lust und Boshaftigkeit.
Tariks Körper bebt unter den Lippen der Mädchen,
Kalt ist das Grab in seinem Rücken,
Warm die Schenkel auf seinem nackten Bauch.
Glücklich, beschenkt zu werden, liebt er.
So zerbrechlich, so schutzlos, so rein;
Zitternd im Krampf ihrer Lust, ihrer Gier.
Ein Lidschlag später ein Schrei in der Nacht,
Kann nicht verstehen, kann nicht erklären,
Kann lange nicht enden.
Die Luft so lau, die Schnäbel so hart,
Stück für Stück verschwindet sein Fleisch
In den gierigen Mündern der Mädchen, so rot.

Copyright Foto: Andrey Kiselev @ fotolia.com
 

http://www.webstories.cc 25.04.2024 - 09:45:50