... für Leser und Schreiber.  

Ab einem bestimmten Alter

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©  Siebensteins Traum   
   
Ab einem bestimmten Alter hat man das Gefühl, das man schon alles gesehen hat, was aber mit Sicherheit gar nicht stimmt. Es gibt ein Alter, das frustriert, weil man das Gefühl hat, man kann vom Leben nicht mehr überrascht werden.

Man hat Arbeit und damit Geld. Man hat eine Mietwohnung. Man hat eine Frau, oder zumindest eine Freundin, das heißt man hat Sex. Man hat so viel zu Essen, wie man möchte. Man hat etwas Anzuziehen. Man lebt in einer Großstadt und kann deshalb so viele und so tolle Sachen erleben, wie man neben seinem Job und neben seiner Familie auszuhalten im Stande ist.

Jetzt rede ich die ganze Zeit über „man“, rede aber in Wirklichkeit die ganze Zeit nur über „mich“.

Es ist ein frustrierendes Alter.

Früher, da war es noch ganz anders. Da hatte man viele von den oben genannten Sachen noch nicht. Aber der Vorteil war, dass man zu jeder Zeit ganz genau wusste, was man haben wollte. Es gab dadurch stets ein klares Ziel; es gab dadurch einfach keine Zweifel.

Das ist heute ganz anders. Ab einem bestimmten Alter ist man voll mit Zweifel.

Ach, schon wieder dieses „man“.

Ab einem bestimmten Alter ist der Zweifel der Normalzustand. Und diesen Zustand auszuhalten die Aufgabe, die das Leben an einen stellt.

Doch wer ist jetzt eigentlich dieser „man“?

Nun, dieser „man“ bin sehr wahrscheinlich „ich“. Und „ich“ heiße Jörg.

So ein Leben in solch einem Alter zu leben ist ja schon schwer genug. Hinzu kommen nun aber auch all die Unsicherheiten, die an einen Menschen zusätzlich noch von außen herangetragen werden.
Die Flüchtlingskrise in Europa zum Beispiel. Wie stehe ich dazu? Diese Frage möchte heutzutage unbedingt beantwortet werden. Doch bin ich überhaupt dazu fähig? Kann ich es mir überhaupt anmaßen, mir ein Urteil darüber zu fällen? Und falls ich mir ein Urteil darüber gefällt habe: ändert dies irgendetwas?

Es hat Einfluss auf meine Wahrnehmung der Situation, in der wir heute Leben. Es hat sicherlich auch Einfluss auf mein Sicherheitsempfinden; auf meinen alltäglichen Umgang mit den Menschen, denen ich alltäglich begegne und deren Aussehen auf einen Migrationshintergrund vermuten lässt.
Aber es ändert nichts daran, dass auch weiterhin Menschen zu uns kommen wollen – und auch kommen. Kann es angesichts dessen überhaupt mehr als eine Lösung für das Problem meines Umgangs mit diesen Menschen geben? Schließlich kann ich sie ja nicht einfach so wegdenken – und puff! - schon sind sie verschwunden. Ich muss einen Umgang mit ihnen finden – ich habe gar keine andere Wahl. Und der Umgang mit „ihnen“ muss vernünftig sein.

Ein Mensch, der südländisch aussieht, darf man nicht in eine Schublade stecken. Das Aussehen darf kein Nachteil sein, aber eben auch kein Vorteil, sonst diskriminiert man die Leute, die nicht so aussehen. „Arschloch“ ist nun einmal eine Rasse, die durch keine Nation und durch kein Aussehen bestimmt wird. Ein Arschloch ist viel mehr jemand, der unreflektiert auf die Herausforderungen, die das Leben an ein Individuum stellt, reagiert.

Ein Arschloch ist ein Wesen, das es immer schon gegeben hat, und zwar auf der ganzen Welt; in jedem Land; mit jeder Hautfarbe; mit jedweder Herkunft - und das es immer geben wird.

Das Leben ist nicht einfach – zu keinem einzigen Zeitpunkt. Ein Mensch, der sich das Leben einfach macht, macht es auf Kosten Anderer, und dadurch entsteht ein Arschloch. Insbesondere ab einem bestimmten Alter, weil man es ab einem bestimmten Alter eigentlich besser wissen müsste.

Es ist ja gar nicht so, als würde ich die Arschlöcher dieser Welt nicht verstehen können. Das Gegenteil ist der Fall: ich habe zutiefst empfundenes Verständnis für sie. Nur ist nun einmal Verständnis etwas ganz anderes, als Akzeptanz. Dies ist ein kleiner aber feiner Unterschied, der aber leider viel zu oft übersehen wird.

Erst ab einem bestimmten Alter ist man fähig zu erkennen was man früher doch für ein Arschloch gewesen ist. Erst ab einem bestimmten Alter wird es kompliziert; muss man sich überlegen, was man möchte.

Schon wieder dieses „man“.

In jungen Jahren ein Arschloch zu sein ist ok.

Normal.

Aber ab einem bestimmten Alter sollte man sich auch mit den Bedürfnissen von anderen Menschen auseinandersetzen können, das heißt mit Bedürfnissen, die nicht die Eigenen sind. Und man sollte dazu fähig werden, das „man“ zum „ich“ und umgekehrt zu machen.

Vielleicht war es das, was ein weltberühmter Mensch aus Königsberg einmal mit seinem kategorischen Imperativ gemeint hat. Vielleicht ist dies auch die beste Antwort auf die Frage, wie man vernünftig mit der Flüchtlingskrise umgehen kann.
 

http://www.webstories.cc 27.04.2024 - 16:13:42