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Herbstfarben oder ein Luxusproblem

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© Rosalina Brand   
   
Eigentlich weiss sie es, es ist jeden Herbst dasselbe, oder auch jeden Frühling, jede neue Saison. Sie packt die Kleider des Vorjahres in den Kleidersack, nur das kleine Schwarze darf bleiben, ein paar Blusen, die Jeans und der Burbery, den sie vor zehn Jahren in London gekauft hat. Alles Andere verschwindet im Sack.
Jetzt soll sie sich wieder neu einkleiden, so will es die Mode, so will es der Markt, es ist so weit, es ist wieder Herbst.
„Kleider sind deine zweite Haut“, sagt ihre Freundin, „eine, die die du dir selbst aussuchen kann“.
Mir meine Haut aussuchen, die Haut mit der ich mich meiner Umgebung zeigen möchte, denkt sie.
Sie sieht sich die neuen Trendfarben an, die aus Journalen und Schaufenstern locken, sie probiert Schnitte und Farben.
„Nein, dieses Grau gefällt mir nicht.“
„Das ist nicht Grau, das ist Taupe, sagt die Verkäuferin, „und es steht Ihnen ganz ausgezeichnet.“
So schnell lässt sie sich aber nicht überzeugen, sie will ihre zweite Haut nicht in Grau und auch nicht in Taupe. Ihre Haut müsste eine leuchtende Farbe haben, ein warmes, tiefes Dunkelrot.
„Haben Sie nichts in Rot“, fragt sie sich umsehend.
„Nein, Rot trägt man diesen Herbst nicht“, meint die Verkäuferin und hängt das Graue verärgert zurück an den Bügel.
Sie weiss es jetzt ganz genau, etwas Rotes muss es sein, ihre Farbe ist jetzt rot. Und zwar nicht dieses helle Baunrot, das neben den verschiedenen Grautönen hie und da zu sehen ist, richtig tiefes Rot, genau so wie bei dem weichen Wollkleid, das sie letztes Jahr getragen hat.
Sie geht nach Hause, leert ihren Kleidersack, den sie zum Glück noch nicht in den Container geworfen hat, auf den Boden und räumt den Schrank neu ein.
 

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