... für Leser und Schreiber.  

Mortal Sin 1998- Shhh...

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©  JoHo24   
   
Die größte Offenbarung ist die Stille.
- Laotse


„Das Geheimnis für strahlend weiße Wäsche…“
Das quietschbunte Fernsehbild flimmerte unruhig und verzerrt vor seinen bebrillten Augen, was ihm Übelkeit und pochende Kopfschmerzen bescherte. Dennoch kam er nicht auf die Idee etwas anderes während seines Feierabends zu tun, denn sein Fernseher war der wenige Luxus, den er sein Eigen nennen durfte. Daher pflanzte er sich jeden Abend gemütlich vor die Glotze und ließ sich berieseln. Nach stundenlangem Schuften auf dem Bau hatte er sich die Ruhe schließlich auch redlich verdient.
Also genoss er die hirnlose Unterhaltung und hielt dabei eine Dose Baked Beans in der linken Hand, die er sich vorhin aus dem Kühlschrank geholt hatte. Ununterbrochen auf den kleinen Bildschirm starrend, schaufelte er sich die weichen Bohnen in den Mund, die seine Backenzähne mit Leichtigkeit zermahlten. Die Masse war matschig, eiskalt und geschmacklos, doch dieser Brei füllte seinen knurrenden Magen und somit gab er sich mit seinem bescheidenen Mahl zufrieden.
Lethargisch und vor sich hinkauend saß er tief eingesunken auf der durchgesessenen, dunkelgrünen Couch, während die Minuten dahin krochen.
Plötzlich vernahm Lionel Delaney Schritte im Flur, die sich nicht mal die Mühe machten leise zu sein. Keine Sekunde später fiel auch schon ein langer Schatten ins Wohnzimmer, der über den Teppich wanderte. Seine Muskeln spannten sich an, doch als er aus den Augenwinkeln, trotz des fehlenden Lichts, die Gestalt erkannte, die im Türrahmen stand, entspannte er sich wieder.
„Du hast dich ja verdammt lange nicht mehr blicken lassen“, grunzte er mürrisch und kratzte sich am kahl werdenden Kopf.
Sein Besucher nickte bloß und trat wortlos ein. Es war ein junger Mann mit schwarzem Haar und ungepflegtem Dreitagebart. Er trug eine dunkelgraue, dreckige Jeans, einen ausgeleierten Kapuzenpullover und Stiefel, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatten. All dies zeigte ihm, dass er es weiterhin nicht leicht im Leben gehabt hatte, nachdem er aus seinem Elternhaus ausgezogen war. Es verwunderte ihn nicht großartig, dass aus ihm nichts Vernünftiges geworden war. Aus einer wertlosen Ratte aus ärmlichen Verhältnissen konnte nun mal kein erfolgreicher Mensch werden. Man blieb der, der man schon immer war. Man konnte seine Herkunft nicht verleugnen; seinen Lebensweg nicht verändern. Lionel Delaney sprach aus eigener Erfahrung. Seine gesamte Familie war arm, daher hatte er selbst keine sorglose Kindheit gehabt. Früh hatte er bereits angefangen zu jobben und dafür die Schule vernachlässigt, bis er sie endgültig geschmissen hatte. Und diesen Weg hatte er an ihn weitergegeben. Auch er hatte keine abgeschlossene Schulausbildung und sich damit seine Zukunft ebenso versaut, wie er damals.
Seine schmutzig braunen Augen hingen an seinem Besucher, der rastlos vor ihm auf und ab lief, als wisse er selbst nicht, warum er hier war. Lange ertrug Lionel seinen hektischen Bewegungsdrang nicht, der ihn beim Fernsehen störte.
„Hör mit diesem Scheiß auf und setz dich.“ Mit der rechten Hand klopfte er auf den Platz neben sich. „Du machst mich nervös, verdammt.“
Sein Sohn, Brolin Delaney, folgte seinem Angebot und ließ sich schwerfällig auf die Couch fallen. Angespannt faltete er die Hände und wippelte mit seinem rechten Bein.
„Also…was machst du hier? Brauchst du etwa Geld?“, blaffte er ihn unfreundlich an. „Bei diesem Thema bist du bei mir an der falschen Adresse, das weißt du ganz genau, mein Junge“, erinnerte er seinen Sohn, den er vor acht Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Trotz seiner langen Abwesenheit gab es keine überschwänglichen Umarmungen oder liebevollen Worte. Ihre Vater-Sohn Beziehung war katastrophal, schon immer. Lionel war bewusst, dass er seinem einzigen Kind kein gutes Leben ermöglicht hatte, sowohl finanziell, als auch emotional. Nach dem Tod seiner Frau war er von einen Tag auf den anderen mit einem Kleinkind alleine und völlig überfordert gewesen. Er hatte sich den Arsch abgearbeitet und keine Zeit für eine liebevolle Erziehung gehabt.
Fortan war er kaum Zuhause gewesen und hatte kein Auge auf seinen Sprössling gehabt, der durch die mangelnde Strenge gemacht hatte, was er wollte. Lionel hatte es wenig interessiert, wo er sich herumtrieb und was er dabei anstellte. Solange er ihm die Bullen nicht ins Haus brachte, pfiff er darauf, was für krumme Dinger er drehte.
Brolin antwortete indes, wie so oft, schweigend auf seine vorangegangene Frage, indem er mit dem Kopf schüttelte.
„Bekommst immer noch nicht den Mund auf, was?“ Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören und kränkte sein Gegenüber sichtlich.
„Unglaublich, dass du so durchs Leben gekommen bist“, gluckste er amüsiert und schmunzelte dabei gehässig. Die Miene seines Sohnes wurde bedrückt und beschämt zugleich, was sein Mitleid jedoch nicht wecken konnte. Er hatte eben nicht viel übrig für sein eigen Fleisch und Blut.
„Aber um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht erwartet, dass du mittlerweile gelernt hast vernünftig zu sprechen. Dafür bist du einfach zu dumm.“ Nun hatte er eine Grenze überschritten, denn Brolin schoss wutschnaubend in die Höhe und baute sich vor seinem Vater auf.
„Ich ha…ha…habe mich verändert, Dad.“ Dem letzten Wort verlieh er besondere Betonung, wodurch Lionel seinen Zorn noch deutlicher heraushören konnte. Doch statt sich zurückzunehmen, erniedrigte er ihn weiter.
„Verändert, ja? Wo hast du dich denn verändert, Junge?“ Mit einem abfälligen Blick musterte er sein ungepflegtes Äußeres, was ihn nur in seiner Meinung bekräftigte.
„Ich sehe noch den gleichen erbärmlichen Versager vor mir, der sich vor acht Jahren verpisst hat, um in die große, weite Welt hinauszugehen und etwas aus sich zu machen“, blaffte er. „Du bist ein stotternder Taugenichts, Brolin. Das warst du schon immer und wirst es für den Rest deines Lebens bleiben.“
„Du...du…“ Seine rasende Wut verstärkte die Symptome seiner Redeflussstörung, was Lionels Verachtung für ihn nur noch anheizte.
„Wa…wa…was?!“, äffte er seinen Sohn nach, der völlig versteinert da stand. Einzig seine Nasenflügel bewegten sich.
Dann ging alles ganz schnell. Brolin packte ihn am Kragen seines grauen Pullovers und wuchtete seinen schweren Körper von der Couch. Lionels Knochen knackten laut, als wollten sie sich über diese grobe Behandlung beschweren.
„Ha…Halt dein Maul, Dad. Du…du….gehst du weit“, warnte er ihn zähnefletschend, aber in seinen Augen sah er die inständige Bitte, dass Lionel sich zurücknahm und ihn nicht weiter beleidigte. Trotz ihrer Differenzen schien sein Sohn ihn nicht verletzen zu wollen, was er zu nutzen wusste.
„Ich will dir doch nichts Böses, mein Junge. Ich führe dir bloß vor Augen, dass du dich irrst und viel zu wichtig nimmst“, lachte er ihm überheblich ins Gesicht. Er nahm keinerlei Rücksicht auf die Gefühle seines Kindes, dessen Miene sich in pures Eis verwandelte. Es hatte im ersten Moment den Anschein, als wolle er etwas sagen, aber es kam anders.
Brolin versetzte ihm, zu seiner Überraschung, einen Kopfstoss, der es in sich hatte. Unter dem heftigen Schmerz ging er jaulend in die Knie. Seine Wohnzimmereinrichtung drehte sich vor seinen Augen; die Bohnenmasse in seinem Magen rumorte. Lionel hatte seinen Sohn unterschätzt. Er hatte ihm nicht zugetraut, dass er ihn tatsächlich attackieren würde.
„Ich ha…ha…habe dir gesagt, da…da…dass du zu weit gehst“, rechtfertigte er seinen Angriff gegen ihn.
„Ach, fick dich“, schimpfte er und bedachte ihn mit einem abwertenden Blick. Er würde sich nicht von seinem Sohn zurechtweisen lassen. Wer glaubte dieser Bengel denn, wer er war? Meinte er, dass ein einziger Kopfstoss ihn in seine Schranken weisen würde? Lionel war um einiges älter und hatte schon einigen Scheiß im Leben hinter sich, da war sein aufmüpfiges Verhalten eine nichtige Kleinigkeit, die er mit einem Gähnen hinnahm.
„Du jagst mir keine Angst ein, du kleiner Pisser“, zischte er und wollte sich aufrappeln, doch Brolin bremste ihn mit einem gewaltigen Faustschlag gegen die linke Schläfe aus. Der Schlag streckte Lionel Delaney zu Boden, wo er nach Luft ringend liegen blieb. Seinen Körper erschütterte ein Beben, das er nicht unter Kontrolle hatte. Sein Schädel dröhnte wie damals, als ihm bei einer Kneipenschlägerei irgendein Typ einen Baseballschläger drüber gezogen hatte. Sein Sohn hatte denselben Schmerz bei ihm mit der bloßen Faust ausgelöst, was ihm zeigte, dass er in den vergangenen Jahren stark geworden war; so stark, dass er für ihn eine ernsthafte Bedrohung wurde.
„Da…das wird sich jetzt ändern“, drohte er ihm eisern und trat Lionel ungerührt ins Gesicht. Blut schoss in Strömen aus seiner Nase, die gebrochen war. Der heiße Schmerz, der ihm durch den Nacken und auch in die Stirn zog, betäubte ihn und verklärte seine Sicht. Er konnte Brolin, der über ihm stand, nur schemenhaft erkennen. Dazu suchte ihn ein kräftiger, bellender Husten heim, der seine Qualen nur noch verschlimmerte. Während er versuchte, so wenig Schwäche, wie möglich, zu zeigen, kam sein Sohn erst richtig in Fahrt.
„Wa…warum auf ei…einmal so still, Dad?“ Seiner Frage folgte diesmal ein gut platzierter Tritt gegen die Rippen, bei dem ihm die Luft wegblieb.
„Du…du hast mich u…u…unterschätzt.“ Er genoss seinen Triumph, das verriet ihm sein vergnügter und heiterer Tonfall. Brolin hatte die Macht über ihn; seinen Vater, mit dem er anscheinend noch eine Rechnung offen hatte. Wollte er ihn etwa für seine beschissene Kindheit bestrafen? Für die wenige Zeit, die er für ihn gehabt hatte? Lionel zerbrach sich den Kopf darüber, obwohl es ihn nur wenig interessierte, aus welchen Gründen sein Sohn ihn zusammenschlug.
Dieser war derweil zu seinem üblichen Schweigen zurückgekehrt und ließ stattdessen weiter die Fäuste sprechen. Minutenlang, ihm kam es wie Stunden vor, malträtierte er umbarmherzig seinen Körper mit unzähligen Schlägen und Tritten, doch er hielt Stand. Er schützte sich, so gut es ging, mit seinen breiten Armen und ließ die Gewalt über sich ergehen, wie ein Hagelschauer, der über ihn hereinbrach. Es war ein Schauer, der seine Sinne trübte und ihm die Orientierung nahm. Doch wie ein wirklicher Schauer, hörte dieser genauso schnell auf, wie er begonnen hatte. Und dann stand man vor den Schäden, die das Unwetter angerichtet hatte.
Der Zentimeter von Lionels Körper schmerzte. Dazu konnte er nicht richtig sehen und auf seinen Ohren lag ein permanentes Rauschen, wodurch er nur am Rande das Geräusch der Haustür vernahm, die zugeschlagen wurde. Dies war für ihn das Zeichen, dass er sich gefahrlos aufsetzen und gegen die Couch lehnen konnte. Schwer atmend saß er auf dem Teppichboden und kämpfte mit seinem schwachen Kreislauf. Mit zittrigen Händen wischte er sich provisorisch das Blut aus dem Gesicht und schmierte es an seinem schweißdurchnässten, fleckigen T-Shirt ab. Anschließend hob er seinen Kopf und fand das Wohnzimmer verlassen vor.
Brolin Delaney hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne, dass Lionel wusste, warum er überhaupt hier aufgetaucht war. Aber vielleicht hatte sein Sohn ihm demonstrieren wollen, zu was für eine Art Mann er sich entwickelt hatte. Und er musste zugeben, dass er dies verdammt eindrucksvoll getan hatte.
 

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