... für Leser und Schreiber.  

Irrtümer

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©  Siebensteins Traum   
   
Sybille war alleinerziehend, wie so viele andere junge Mütter in einer deutschen Großstadt auch. Und natürlich hatte sie auch all die Sorgen, die das so mit sich brachte. Vor allem Geldsorgen. Aber auch Sorgen, dass das eigene Kind unverschuldet den anderen Kindern gegenüber benachteiligt war. Deswegen hatte sie auch ein schlechtes gewissen ihrem Sohn gegenüber und das Wissen, dass das Kind dies irgendwann mitbekommen würde und dass dies ebenfalls sehr ungünstig für seine Entwicklung sein konnte. Ein Teufelskreislauf. Hinzu kam ein schlecht bezahlter Job als Kassiererin bei einem dieser Discounter, in denen man ausgenutzt und extra schlecht behandelt wurde, weil der Arbeitgeber ganz genau wusste, dass die Angestellten gar keine andere Wahl hatten, als diesen Job durchzuziehen. Kurz gesagt: eigentlich war Sybilles Leben schwierig und hart, aber dennoch versuchte sie das Beste daraus zu machen. Versuchte dennoch trotz all ihrer Sorgen eine gute Mutter zu sein, eine Mutter, die dafür sorgte, dass es das Kind gut hatte; dass es dem Kind einmal besser gehen würde, als ihr selbst.
Sie selbst hatte schon keinen guten Start ins Leben gehabt. Ihre Herkunftsfamilie war zerrüttet gewesen. Sie hatte vom Elternhaus her keinen Zugang zur Bildung gehabt; keinerlei finanzielle oder auch nur emotionale Sicherheit erfahren, nur den Willen, es anders, und natürlich: es besser zu machen.
Die Schule war keine schöne Zeit für sie gewesen. Sie wurde oft gehänselt, weil es ihre Mutter einfach nicht auf die Reihe bekommen hatte, ihr anständige Klamotten anzuziehen. Sie hatte die Schule und die Mitschüler gehasst. Sobald es gegangen war, war sie aus diesem System ausgestiegen, um sich einen Job zu suchen, um auf diese Weise so schnell wie irgend möglich auch von zu Hause weg zu kommen. Weg von all dem Stress, den es dort gegeben hatte. Von den Streitereien; der Vernachlässigung; der Ignoranz ihrer Person und vor allem ihrer Bedürfnisse gegenüber.
Schnell hatte sie auch ihren ersten Liebhaber gehabt; dann war sie auch schnell schwanger geworden und genau so schnell war auch der arbeitslose Vater ihres noch ungeborenen Kindes verschwunden gewesen.
Trotz all der Schwierigkeiten war sie entschlossen, eine gute Mutter zu sein. Das war gar nicht so einfach. Insbesondere weil ihr Sohn nicht gerade ein ruhiges Baby war.

Uli war etwas zurückhaltend, etwas neben der Spur, aber irgendwie gerade deshalb auch interessant. Hatte jemand mit ihm zu tun, dann wollte dieser sofort wissen, weshalb er so war, wie er war. Dann wurde sich schnell die Frage gestellt, wie ein Mensch nur so hatte werden können?
Menschen funktionieren normalerweise relativ einfach: sie wollen den eigenen Vorteil. Kooperation entsteht nur, wenn sich Interessen aus einem Zufall oder aus einem Missverständnis heraus verbinden. Bei Uli hingegen schien es etwas anders zu sein. Seine Motivation war nicht klar deutbar, irgendwie unberechenbar. Stellte ihm jemand einen Stein in den Weg, dann blieb er einfach stehen, ohne sich in irgendeiner Weise die Mühe zu machen, ihn aus dem Weg zu räumen. Dann schaute er sich nach allen Seiten um und ging meist einfach in eine andere Richtung, ohne dass dies von außen betrachtet für ihn irgendeinen nennenswerten Vorteil ergab.
Unberechenbarkeit ist den Menschen unheimlich, macht ihnen Angst. Und da der Mensch Angst stets zu vermeiden sucht, wurde auch Uli stets gemieden – zumindest wenn dies möglich war. Früher in der Schule hatte es aber oft Projektarbeiten gegeben. Dann hatte es passieren können, dass man sich Uli gar nicht entziehen konnte. Zu Anfang hatte es immer noch Versuche gegeben, das Beste aus der Situation zu machen. Aber Uli war immer Uli geblieben, egal in welcher Situation. Einmal da war es um einen Vulkan gegangen, der möglichst naturgetreu gebastelt und der anschließend vor der ganzen Klasse präsentiert werden sollte. Nachdem ein paar Teilaufgaben ausgezeichnet funktioniert hatten, wurden die Projektteilnehmer euphorisch und wollten nun auch, dass der Vulkan nicht nur wie ein Vulkan aussah, der gerade ausbrach und dessen Lava an den Hängen herunterlief, was als Aufgabe vorgegeben war, sondern dass er vor der ganzen Klasse tatsächlich ausbrechen sollte; dass die Kuppel genau zum richtigen Zeitpunkt aufplatzen, dass anschließend vor den Augen der Klassenkameraden ein Krater entstehen sollte, aus dem die Lava tatsächlich den Berg herunterfloss.
Zu diesem Zeitpunkt hatte es schon Streitigkeiten unter den Projektteilnehmern gegeben, wer was getan hatte und dementsprechend ob eine einheitliche Note für alle überhaupt gerechtfertigt war, oder ob es gerechter war, dass jeder seinen individuellen Leistungen entsprechend eine Note bekommen sollte.
Dies waren Zwistigkeiten, die wohl in jeder Projektgruppe entstehen können. Ein Gift, das sich schleichend ausbreitet und langsam, wie die Lava, die von weitem betrachtet Zentimeter für Zentimeter am Hang eines Vulkans herunterkriecht und seine zerstörerische, destruktive Kraft wie in Zeitlupe, aber dafür unaufhaltsam, immer weiter ausbreitet, immer weiter entfaltet.
Am Ende hatten sich alle dermaßen zerstritten, dass keiner mehr etwas tun wollte; dass alle Projektteilnehmer insgeheim gehofft hatten, dass gar nichts zustande kam, damit auf diese Weise auch niemand unrechtmäßig die Lorbeeren hätte einheimsen können.
Eines Tages hatten sich alle wie zuvor vereinbart kurz vor der Projektpräsentation noch einmal getroffen, um die allerletzten Vorbereitungen für den großen Tag zu treffen. Als sie an mittlerweile IHREM Vulkan angekommen waren, mussten sie jedoch feststellen, dass er von jemandem offensichtlich mutwillig derart zerstört worden war, dass es nun unmöglich wurde, ihn noch einmal vor der Präsentation in Stand zu setzen.
Selbstverständlich waren alle geschockt gewesen. Selbstverständlich hatten sie wissen wollen, wer verdammt nochmal dafür verantwortlich gewesen war. Selbstverständlich hatten sie sich gegenseitig beschuldigt. Selbstverständlich hatte es keiner von ihnen zugegeben. Selbstverständlich waren alle insgeheim erleichtert gewesen, dass dieses Projektdrama mit dem Verlust des Vulkans nun endlich ein Ende gefunden hatte.
Alle waren hysterisch geworden. Alle waren laut geworden. Alle, bis auf Uli. Ihn hatte das alles überhaupt nicht zu jucken geschienen. Und gerade dies hatte ihn verdächtig gemacht, weshalb er insgeheim auch der Hauptverdächtige gewesen war. Doch das war nicht ausgesprochen worden. Es waren lauthals alle verdächtigt worden, bis auf ihn. Ihn hatten sie nur insgeheim verdächtigt. Ihm waren sie auch insgeheim dankbar, dass er es getan hatte und sie alle damit unverschuldet von der Belastung dieses Projektes befreit hatte. Offen hatten sie sich gegenseitig beschuldigt, und dass sie doch schon immer gewusst hätten, dass dieser oder jener so und so war, und man sich auf diesen oder auf jenen einfach nicht verlassen konnte.
Ihr Lehrer war gnädig gewesen. Er hatte sich das Überbleibsel des Vulkans angeschaut, hatte sich ihre Geschichte angehört, hatte anerkannt, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatten und hatte jedem von ihnen eine drei gegeben.
Der genaue Tathergang war nicht weiter verfolgt worden. Aber selbstverständlich hatte jeder nur allzu genau Bescheid gewusst, wer es nur gewesen sein konnte.
Das war damals ein typischer Verlauf, wie es immer war, wenn Uli dabei war. Irgendwie entwickelte es sich dann immer so oder zumindest so ähnlich: seltsam; nicht richtig fassbar; nicht mehr im Nachhinein richtig aufklärbar. Dann blieb immer alles irgendwie nebulös – aber gleichzeitig wusste jeder mit größter Gewissheit über alles insgeheim doch Bescheid, oder glaubte dies zumindest.
Uli machte seine mittlere Reife – irgendwie. Ob nun mit besonders gutem Willen seiner Lehrer, oder weil er es aus eigener Kraft geschafft hatte, das wusste keiner mehr wirklich zu sagen. Aber am Ende seiner Schulzeit hatte er seinen Abschluss in der Tasche und fand einen Ausbildungsplatz.
Seltsame Vorkommnisse gab es auch danach immer wieder. Scheinbar der einzige rote Faden im Leben von Uli. Und immer blieb dabei mindestens ein Fragezeichen zurück.

Frauke war ein fröhlicher Mensch; eine angenehme Person. Mit roten Haaren, Sommersprossen und einem Faible fürs Lachen, wodurch stets Grübchen auf ihren Wangen zum Vorschein kamen. Sie hatte Humor, alle mochten sie. Und sie sah auch noch blenden aus. Sie machte gerne Sport, liebte Rätsel und die Philosophie von Humboldt. Auch mochte sie Sachen wie T-Shirts mit Pumuckl drauf oder Handys mit Hüllen vom Sams. Frauke hatte einen unstillbaren Durst nach Erfahrungen; saugte das Leben nur so in sich auf. Mit Leonardo da Vinci hätte sie sich sicherlich prächtig verstanden. Auch hatte sie eine künstlerische Ader, kleidete sich gerne Schräg aus dem Secoundhand-Laden, diese Läden, in denen man Kleider kiloweise kaufen konnte, und vergötterte den Punk wegen der Freiheit und der ungehaltenen Energie, welcher dieser repräsentierte. Sie ging gerne auf Punk-Konzerte und hatte einen Plattenspieler zu Hause, auf dem sie schon mal gerne neben den „Sex Pistols“ auch „Mozart“ oder „Beethovens 7. Symphonie“ hörte.
Frauke liebte es, in Plattenläden zu gehen, zu stöbern, und eine Platte zu kaufen, die zwar einem Genre zuzuordnen war, von der sie aber noch nie zuvor gehört hatte. Denn nur so, das war zumindest ihre felsenfeste Überzeugung, konnte man WIRKLICH etwas neues entdecken. Schließlich hatte sie so auch „Egotronic“ entdeckt, eine klasse Elektropunkband aus Berlin, wie sie nun wusste.
Frauke war super. All dies hatte tatsächlich auch nur einen einzigen Haken: zwar wurde Frauke von allen gemocht; wurde auf jede Party eingeladen; lachten alle mit ihr; gaben ihr das Gefühl, dass sie dazugehörte. Wollte aber ein Kumpel mal mehr, als nur Freund sein, so bekam dieser stets signalisiert, dass daraus nichts werden würde, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Irgendwie schien der jetzige Zeitpunkt immer zu sein.
Trotz all der positiven Eigenschaften und der Beliebtheit von Frauke war sie dennoch irgendwie unnahbar; schien sie für eine einzelne Person irgendwie nicht fassbar zu sein, auch für ihre Freundinnen nicht, weil sie sich in all den Möglichkeiten, die ihr das Leben bot, stets irgendwie aufzulösen schien. Und das ergab eine seltsame Mischung aus Beliebtheit und insgeheimer Unbeliebtheit. Diese andere Seite würde ihr gegenüber aber niemals jemand offen zeigen, auch nicht hinter ihrem Rücken. Die meisten Leute würden sich diese Tatsache noch nicht einmal im stillen Kämmerlein selbst eingestehen können, aber dennoch war es immer da und wurde durch das kollektive Verdrängen eigentlich nur immer stärker und so unterschwellig auch für alle Beteiligten, außer für Frauke, belastender.
Es war Samstag ca. 14 Uhr. Es war sonnig. Es war eine Großstadt. Es war genau der richtige Ort und genau die richtige Zeit für Frauke, um durch ihren Lieblingspark zu schlendern und den Leuten dort zuzuschauen, wie sie Frisbee warfen, wie sie dealten, wie sie ihre Hunde ausführten, wie sie faul in der Sonne lagen und an ihrer Club Mate hin und wieder nuggelten. Es war genau die Atmosphäre, genau die Inspiration, die Frauke brauchte, um einfach so ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu haben, glücklich zu sein, und in den angrenzenden Plattenladen zu gehen, um eine Neuentdeckung zu machen. Vielleicht heute mal was Jazziges? Ach, einfach mal sehen und überraschen lassen!
Es ist nicht mehr klar, wer wen zuerst gesehen hatte. Aber auf ihrem Weg zu dem Plattenladen durch den Park bei schönstem Wetter hatte sie wohl Uli irgendwo getroffen. Zumindest sagten dies später Augenzeugen. Allerdings konnte keiner dieser Zeugen mehr mit Sicherheit sagen, wie es dann weitergegangen war. Es konnte auch keiner mehr mit Sicherheit sagen, ob beide länger miteinander gesprochen hatten und ob sie dann gemeinsam weg gegangen waren. Es waren sich alle lediglich darüber einig gewesen, dass sie sich im Park getroffen und sehr wahrscheinlich zumindest kurz miteinander gesprochen hatten.
Die Zeitungen berichteten am nächsten Tag über die hübsche Frauenleiche. Dass sie in einem See gefunden worden war, nicht weit von der Stelle entfernt, an der wir mit unserer Erzählung Frauke verlassen hatten. Die Zeitungen berichteten nur vage darüber, was geschehen sein könnte. Sehr wahrscheinlich, so berichteten manche Zeitungen, handelte es sich aber um ein Sexualdelikt. Und es gab auch Spuren an der Leiche, die zumindest die Annahme zuließen, dass es auch zu Folterungen gekommen sein könnte. Wie detailliert diese Vermutungen aufbereitet waren, hing ganz davon ab, um welche Zeitung es sich dabei handelte. Schlug man an diesem Tag zum Beispiel eine Boulevardzeitung auf, konnte man sich darauf verlassen, dass dieser Aspekt der Geschichte viel klarer hervorgehoben war und dass die diesbezüglichen Spekulationen viel weiter gingen, als es bei einer seriöseren Zeitung der Fall gewesen wäre.
Es hatte einen Verdächtigen gegeben. Dieser war anscheinend von der Polizei auch ausführlich verhört worden. Allerdings war offenbar nichts dabei herausgekommen, weil die Polizei noch keinen Täter präsentiert hatte.

Sybille war mal wieder im Stress. Sie hatte den Kinderwagen dabei, und mit ihm das mal wieder lauthals schreiende Baby, das die Windeln voll hatte (Sybille hatte natürlich keine frischen dabei); hatte einen wichtigen Termin beim Jugendamt, den sie unbedingt pünktlich einhalten musste (dabei ging es mal wieder um die Frage, ob sie es schaffte, ausreichend für ihr Kind zu sorgen, oder ob es in einer anderen Obhut besser aufgehoben wäre); und brauchte auch noch ein Ticket für die U-Bahn. Zunächst musste sie sich aber um die Windeln für das Baby kümmern, sie würde diese dann einfach beim Jugendamt auf der Toilette wechseln. Sie wollte sie in einem kleinen Laden direkt neben dem Aufzug, welcher direkt zur U-Bahnhaltestelle führte, kaufen. Allerdings musste sie entsetzt feststellen, dass ihr Kinderwagen ein ganz klein wenig zu breit war, um durch den relativ engen Eingang des Ladens passen zu können.
Verkehrslärm, das Schreien des Babys, irgendwo eine heulende Sirene wahrscheinlich eines Krankenwagens. Stress.
Sie schaute jetzt schon fast panisch auf ihre Uhr. Sie musste so schnell wie möglich los, um noch pünktlich zu dem Termin beim Jugendamt zu kommen.
Plötzlich bemerkte sie einen seltsamen Mann direkt neben der Eingangstür des Ladens stehen. Sie hatten ihn vorher gar nicht bemerkt gehabt. Sie hatte ihn wohl übersehen.
Dieser Typ sah unscheinbar, harmlos, ein bisschen seltsam, aber auf keinen Fall gefährlich aus.
„Entschuldigen Sie“, sprach Sybille den Mann an, während dieser verzweifelt versuchte, ihrem Blick auszuweichen. „Entschuldigen Sie bitte!“ Dann sah er sie doch an. „Ich habe es wirklich sehr eilig, muss mit der U-Bahn einen sehr dringenden Termin pünktlich wahrnehmen, muss hier in dem Laden vorher aber noch was für mein Baby kaufen. Wie sie aber sicherlich bemerkt haben, passt der Kinderwagen nicht durch diese blöde Tür durch.“ Der Mann schaute mit einem irgendwie ausdruckslosen Gesicht zuerst den Kinderwagen, dann die Tür, und anschließend wieder sie an. Dann sagte Sybille fast flehentlich zu dem Mann: „Wären Sie bitte so freundlich, nur ganz kurz auf das Baby hier draußen aufzupassen, während ich in diesem Laden etwas für es kaufe? Sie würden mir damit den Tag retten!“ Der Mann zögerte kurz, als müsste er sich diese Bitte erst noch gründlich überlegen. Dann nickte aber Uli, und Sybille viel ein Stein vom Herzen. „Vielen Dank! Ich bin auch sofort wieder da!“ Sie gab ihrem kleinen Söhnchen noch hastig ein Küsslein auf das Wänglein, dann trat sie hastig in den Laden ein, kramte währen dessen ungeschickt in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel herum, und war schon wieder ein wenig zuversichtlicher, dass dieser Tag doch noch besser für sie enden könnte, als sie es noch vor wenigen Minuten zu hoffen gewagt hatte.
 

http://www.webstories.cc 28.03.2024 - 18:33:45