... für Leser und Schreiber.  

Vorahnungen

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© Rüdiger Honk Jones   
   
Wieland Richter hatte einen schweren Tag hinter sich gebracht. Die Arbeit nervte wieder einmal vollkommen. Sein Chef hatte ihn kurz vor der Mittagspause in sein Büro kommen lassen. Richter hatte kein gutes Gefühl bei er Sache und er sollte sich nicht getäuscht haben.
Bentner, Richters Chef und direkter Vorgesetzter, eröffnete ihm in einigen knappen Worten, das er ab Montag die Metal – und Farbabteilung des Baumarktes vertretungsweise zu übernehmen hätte. Der zuständige Abteilungsleiter war kurzfristig in einen anderen Markt der Kette als Fillialleiter versetzt worden.
Schon wieder hatte man ihn übergangen. Das fünfte mal. Doch es Überraschte ihn nicht wirklich. Vor einigen Tagen hatte er einen seltsamen Traum gehabt. Eine Art Vorahnung des kommenden Schlamassels. Richter hatte schon häufiger derartige Träume gehabt. Mal betrafen sie ihn selbst und sein Leben. Andere male waren Freunde oder Bekannte in diesen Bildern aufgetreten.
Richter machte sich keine weiteren Gedanken über diese Vorkommnisse. Er kannte dies schon aus seiner Kindheit. Seine Großmutter hatte ihn eines Tages – er war gerade fünf Jahre alt geworden – bei Seite genommen und ihn gefragt, ob er manchmal von Dingen Träumte, die dann tatsächlich geschahen. Er hatte damals nur genickt.
„Das ist nichts, wovor du dich fürchten mußt, Junge. Es ist eine ganz besondere Gabe und du solltest sie zum Wohle deiner Mitmenschen einsetzen. Sie werden es nicht immer verstehen und sie werden dich vielleicht sogar fürchten. Aber verleugne sie nicht, diese Gabe. Du darfst sie nicht ignorieren, hörst du? Sie läßt sich nicht einfach so vergessen wie ein alter Schuh. Wenn du sie leugnest, wird es schlimm für dich!“
Die alte Frau hatte diese Worte in ernstem Tonfall an ihn gerichtet. Es war das letzte Gespräch, das Richter mit ihr führte. Einen Tag später starb sie beim Beerenpflücken. Richter hatte das aber schon gewußt, als er mit ihr sprach. Doch er schwieg darüber. Wie so oft.
Langsam und gemessenen Schrittes ging er nach Hause. Seine Frau wartete sicher schon mit dem Essen auf ihn. Doch eigentlich hatte er gar keinen Hunger. Der Ärger und der Frust über das geschehene hatten ihm den Appetitt verdorben. Es würde wieder Streit geben. Soviel schien sicher zu sein.
„Ich wünschte, die scheiß Gabe käme mir jetzt zu Hilfe“ sagte er resigniert.
Doch er schlief nicht und die Gabe zeigte sich – bislang jedenfalls – nur wenn er schlief. Die Worte seiner Großmutter spukten ihm immer und immer wieder im Kopf herum in den letzten Tagen. Irgend etwas würde passieren, soviel war klar. Nur wußte er noch nicht was geschenen würde. Und im Augenblick wollte er auch gar nichts wissen. Am liebsten eigentlich nie mehr. Einfach normale Träume haben, die so bedeutungslos waren wie bei anderen Menschen auch. Aber das war ihm nicht vergönnt.
 

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