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Das Glöckchen des Grauens

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© Frank Bao Carter   
   
Mirka wäscht die weißen Lederstiefel ihres Herrn mit einem feuchten Tuch. Der Latexmantel hängt schon gereinigt am großen Eisenhaken in der Wand der Waschküche. Das zweite Mal innerhalb von drei Tagen ist ihr Herr maßlos erbost und verhältnismäßig groß verschmutzt von seiner Produktionsstätte heimgekommen. Das sechzehnjährige Dienstmädchen weiß, es hat mit dem Lieferanten von Buchenholz zu tun. Der Lieferant hat seine Preise verdoppelt, weil Buchenholz immer schwieriger zu beziehen ist. Es wird förmlich gejagt von den Köhlern, da die aus ihm gewonnene Holzkohle einen Glühwert von 1500 Grad Celsius erreicht. Es kommt damit fast an die Steinkohle heran und wird von den Schmelzhütten bevorzugt geordert.

Will ihr Herr die Verluste in Zaum halten, muss er irgendwann dem Lieferanten nachgeben. Noch hofft er auf Umsatzsteigerung mit minderwertiger Kohle. Währenddessen orientieren sich die Hütten und Eisenwerke schon um. Die Aufträge gehen zurück, Schmiede und Bäcker, die die kleinere Ziehkohle abnehmen, wachsen nicht wie Pilze aus dem Boden.
Das Meer an Unzufriedenheit, das dadurch in ihrem Herrn brodelt, bricht wie eine Sturmflut über die Arbeiter herein.

Den Stiefel auf einen Arm aufgezogen poliert Mirka das Leder. Da hört sie das Teeglöckchen klingeln. Der Klang lässt sie zusammenfahren, als hätte ein böser Ritter ihr eine Lanze in den Bauch gestoßen. Ihre Muskeln verkrampfen sich, der Mund wird trocken, ihr ganzer Körper erfüllt sich mit Schmerz.
Sie bewegt sich nicht von der Stelle. Kann nicht, obwohl sie muss. Wieder ruft das Glöckchen des Herren nach ihr. Wieder und wieder.

Das Dienstmädchen macht einen Schritt, bleibt stehen. Seine Hände kneten in seiner Kittelschürze. Tränen rollen ihm aus den Augen. Mirka hat keine Chance. Das Glöckchen wird nicht verstummen, bevor sie nicht bei ihrem Herren ist. Sie öffnet die Tür der Waschküche. Ihr Atem stockt. Sie steht vor der Tür. Will nicht. Möchte fliehen. Steht. Und steht. Das Herz klopft. Pocht gegen ihre Brust. Erzeugt fast kein Geräusch.
Draußen im Hof die zwei Doggen, eine Schulterhöhe von ein Meter und zehn, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze zweihundert Zentimeter – das Dienstmädchen weiß, eine Flucht nicht überleben zu können.

Und selbst wenn, was würde Mirka im Dorf ihrer Eltern erwarten. Sie hätte Schande über ihre Eltern gebracht. Das Gesicht hätten sie verloren, weil sie als Dienstmagd ihrem Herren weggelaufen ist. Ein Makel, der die Tochter unbrauchbar machen würde. Niemand würde sich mehr finden, die Abtrünnige in seine Dienste zu nehmen. Bloß ist das nicht ihr größtes Vergehen.
Mirka würde ihre Eltern auf ewig kompromittieren. Sie hat sich entehren lassen, der Verlust des Ansehens würde auf Vater und Mutter überwechseln, beträte sie mit dem Kind in ihrem Bauch ihr Elternhaus. Ein Skandal, den der Vater nicht zu dulden habe. Wie eine flohbesetzte Katze würde er sie, Mirka, ersäufen. Im Fluss hinter dem Haus. Zur besten Tageszeit.

„Nun komm endlich“, hört sie den Weißen Köhler rufen.
Sie geht bis zur Treppe. Bleibt stehen. Ihre Hand, auf dem Knauf des Geländers, sie zittert extrem.
„Beweg deinen Hintern die Stufen hinauf!“ Der Ton des Herren wird ungehaltener. Das Dienstmädchen muss. Will nicht. Zwei Schritte. Stehenbleiben. Atem schöpfen. Zwei Schritte . . .
Tränen. Verzweiflung. Unglück. Die Versuchung, Gott zu lästern.

„Komm rein, ich weiß, du stehst vor der Tür.“
Tür auf. Eintreten. Knicks. Tür zu. Absperren. Stehen bleiben. Hände an Kittelschürze. Kneten. Bluten. Innerlich.
Der Mann im Sessel winkt sie heran.
Zögernde Schritte. So unsagbar schwer. Magnete, die ihre Füße am Boden halten. Mitten im Zimmer. Unter dem funkelnden Kronleuchter. Sein Licht so kalt.
Der Mann erhebt sich.
Ihre Hände lösen den Knoten auf ihrem Rücken. Mechanisch. Das Herz pocht. Die Seele blutet. Blutet. Blutet.

Mirka streift das Halsband der Schürze über ihren Kopf. Wirft das Kleidungsstück weit weg. Ihr Herr mag es nicht an ihr, wenn er auf sie zukommt, wie er jetzt auf sie zukommt.
Fliehen. Hunde. Fluss. Es ist zum Verzweifeln.

„Komm näher! Komm näher! Mein Schatz.“
Mirka hört Schritte. Ihre Schritte. Will es nicht glauben. Es ist nicht sie, die gerade spürt, wie sich eine Hand auf ihren Bauch legt.
Bauch. Oberschenkel. Unterm Kleid.
Schweißperlen auf der Stirn des Mannes. Röchelnder Atem. Gestank nach Nikotin und Teer. Ekel. Verderben. Eine Zunge, die in ihrem Mund kreist. Kreist und kreist. Zunge. Hand. Zunge. Hand. Dann ist er in ihr. Schande über sie. Entehrt. Wertlos. Zur Sünde gezwungen.
Kein Licht. Schwärze. Nichts.
Nichts außer Tränen.
 

http://www.webstories.cc 20.04.2024 - 00:14:11