... für Leser und Schreiber.  

Das Gesicht im Spiegel

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© Rosalina Brand   
   
Ich schaue in den Spiegel und sehe in das Gesicht einer alten Frau. Ich sehe ein Gesicht, in das ein langes Leben seine Geschichte eingeschrieben hat, ein Leben, das Spuren hinterliess. Ansammlungen von feinen Fältchen, die sich in der Bewegung des Lachens zu Fächern, Kreisen und Wurzelgebilden verzweigen. Daneben tiefere Furchen, die sich im ernsten Hinschauen noch verstärken.
War die Frau, die mich gestern aus dem Spiegel angeblickt hat die gleiche wie heute? Oder hat sich ihr Bild ganz leicht verändert? Hat die Spannkraft ihrer Haut unmerklich etwas nachgelassen, sich eine Linie verstärkt, unmerklich zwischen gestern und heute? Ich kann es nicht erkennen, erkenne es genau so wenig wie all die Tage vorher. Und doch hat es sich verändert. Es ist nicht mehr das Gesicht von früher, dem ich hier in die Augen schaue.
Was ein Tag an Veränderung selten erkennen lässt, tun es Zehnjahres-Schritte um so deutlicher. Ich bin nicht mehr die Frau, die ich vor zehn, vor fünfzehn Jahren war. Die Frau mit sechzig, die sich gefragt hat, wie sich das Älterwerden wohl anfühlen würde, ob da noch etwas nachgeholt werden könne von dem, was bisher zu wenig gelebt wurde. Noch weniger ist es das Gesicht der Fünfzigjährigen, die Vieles erreicht hatte und sich über das Erreichte freute, dabei neugierig auf alles Kommende blieb. Die Vierzigjährige, die endlich das ihr Eigene gefunden hatte und sich auf dem Höhepunkt ihres Lebens fühlte. Die Dreissigjährige, die sich von den ersten Illusionen befreit, gefragt hatte, ob dies nun schon alles sei, was ein Leben zu bieten habe. Die Zwanzigjährige, die gerne ihrem Spiegelbild zulächelte, die voller Neugierde alles erwartet hatte, was an Wunderbarem auf dieser Welt zu erleben war.
Die Frau, die mich heute aus meinem Spiegel anschaut ist eine Babuschka, eine Matrjoschka, die all die früheren Frauen in sich trägt, eine unter der andern, ein Gesicht unter dem andern. Bis zurück zu dem kleinen Mädchen, das ich einmal war, dem innersten Kern meiner Matrjoschka.
Ich sehe das kleine Kind deutlich vor mir. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und schaue ihm in die Augen.
 

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