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Im Adlerhorst

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©  Glaser   
   
„Wann kommt er endlich? Ich habe Hunger“, sagte der Adlerjunge zu seiner großen Schwester.

„Keine Ahnung“, antwortete sie. „Es kann aber nicht mehr lange dauern, er ist ja schon eine ganze Weile weg“, fuhr sie fort.

Schon vor Sonnenaufgang war der große Adler zu seinem Beutezug aufgebrochen. Die beiden Jungadler blieben in ihrem großen Nest auf dem Gipfel eines hohen Berges zurück. Erst schliefen sie noch ein bisschen. Als sie aufgewacht waren, spielten sie Wolkenraten. Wer als Erster sagen konnte, was eine Wolke darstellte, hatte gewonnen. Meistens gewann das Adlermädchen. „Das ist ein Ei, das ist eine Feder, das ist eine Möwe, das ist ein Baum“, sagte sie. Der kleine Adler staunte, was sie alles wusste.

So ging das eine Zeit lang. Nach und nach wurden sie aber immer unruhiger, denn so lange hatte der große Adler sie noch nie warten lassen.

„Ich sehe mal nach, wo er bleibt“, sagte der Adlerjunge, krabbelte auf den Rand des Nestes und blickte ins Tal. Plötzlich verspürte er einen Schmerz im Genick. Seine Schwester hatte ihn mit einem unsanften Biss gepackt und zurückgezogen. „Das machst du nie wieder, verstehst du? Es ist viel zu gefährlich, du kannst ja noch gar nicht fliegen. Und wenn du hinunterfällst, kommst du nicht wieder hoch!“, sagte sie ärgerlich.

„Entschuldige“, sagte der kleine Adler. „Ich meine es nur gut mit dir“, beschwichtigte sie ihn.

Dann endlich, die Erlösung. Erst war nur der Wind zu spüren, den er mit seinen mächtigen Flügeln verursachte. Dann sahen sie ihn. Sie erschraken. Denn er hatte ein riesiges, langes Ding im Schnabel. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Der große Adler landete behutsam im Nest.

„Schön, dass du wieder da bist“, riefen sie beide gleichzeitig. „Was hast du uns denn da mitgebracht?“

„Also, das ist eine längere Geschichte“, antwortete er. „Ich habe erst das ganze Tal abgesucht. Außer Kleingetier war zunächst nichts zu finden. Wer soll denn davon satt werden? Wir sind ja schließlich zu dritt. Dann brachte mich eine große Würgeschlange auf eine Idee. Ich ließ sie für mich arbeiten. Sie verschlang einige Mäuse und Kaninchen. Und als sie fertig war, schnappte ich sie mir und nahm sie mit. Jetzt haben wir eine ganze Woche lang zu essen!“

„Toll“, sagte das Adlermädchen. Und die beiden Adlerkinder ließen es sich schmecken.
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 15:19:14