... für Leser und Schreiber.  

Schatten (1 - 3)

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© Daniel Freedom   
   
1
Sie gingen Hand in Hand über das goldgelbe Feld. Ihre Schatten folgten ihnen leise Schritt für Schritt Richtung Sonne. Nur das Zirpen der Grashüpfer war zu hören und ihre kleinen Füße hinterließen schwache Abdrücke im sandigen Boden. Die Schatten folgten ihnen still ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.
Die Luft war klar und in der Ferne waren nichts als Felder und Wiesen zu sehen. Der Geruch von Heu, Mais und Dünger lag ihnen in der Nase. Sie erreichten ihr Versteck, den riesigen Baum am Ende des Feldes. Die alte Buche hatte ihre besten Tage hinter sich und die Rinde war rissig und rau aber Schatten und Kühle spenden konnte sie immer noch so gut wie in Kindheitstagen.
Die beiden setzen sich in den Schatten. Ihre Rücken an den Baum gelehnt und immer noch Händchen haltend. Die Schatten hatten sich verzogen oder waren ihre eigenen Wege gegangen.
Tim kramte aus seinem Rucksack die Flasche Eistee und hielt sie Judy hin. Sie nahm drei kräftige Schlucke und lächelte ihn an. Er lächelte zurück, trank und sah über das Feld, über dem ab und zu ein Rabe kreiste.
„Was sollen wir machen? Runter zum See?“, fragte er.
„Lass uns noch eine Weile sitzen. Hier ist es kühl und mir gefällt es, wie der Wind um den Baum streicht und uns in der Nase kitzelt.“
Tim musste wieder grinsen und sah zu dem Raben. Er war gerne mit Judy zusammen. Sie war wie er. Eigentlich ein Träumer und Einzelgänger, aber als sie vor vier Monaten hierher gezogen war und sie seit dem gemeinsam zur Schule gingen, waren sie wie Pech und Schwefel. Sie klebten jeden Tag aneinander und er war einfach glücklich sie gefunden zu haben. Sie ergänzte ihn und sie hatten Spaß, jede Menge Spaß und trotzdem kam auch das Träumen nie zu kurz. Einfach nichts zu tun. Rumzulaufen, Steine in einen See schnippen oder einfach nur auf einer Wiese zu liegen, um die Wolken zu betrachten. Zuzuschauen wie aus ihnen Löwen oder Nashörner wurden, nur um im nächsten Moment gleich wieder ihre Form zu ändern um was ganz anderes zu werden, wie ein Auto oder ein Flugzeug. Am besten waren die Dinosaurier dachte Tim, aber die waren echt selten zu sehen. Auch die Wolken warfen Schatten. Was waren Schatten? Ein Negativ des Realen? Ein Teil von uns? Man konnte sie nicht abschütteln und sie gehörten irgendwie zu uns - waren ein Teil von uns.
Er spürte eine plötzliche Unruhe in sich und sah wieder zu Judy. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Hand lag schlaff in seiner. Sein Lächeln löste sich auf, wie die Schleierwolken über ihm. „Judy, alles klar bei dir? Hey du, bitte veräpple mich nicht, das ist nicht wirklich witzig.“ Aber er wusste es besser, hatte es gewusst bevor die Wörter aus seinem Mund sprudelten. Etwas stimmte nicht.
Er schüttelte sie sanft aber nichts geschah. Dann schrie er sie an: „Tu mir das bitte nicht an. Nein. Ich brauche dich. Mach deine Augen wieder auf!“
Ihre Lider bewegten sich und tatsächlich öffnete sie die Augen und er sah den Schleier über ihren sonst strahlend grünen Augen. Sie verdrehten sich, suchten Halt, fanden keinen und schlossen sich wieder.
Er rüttelte wieder an ihr. Dieses Mal kräftiger. Wieder das Flimmern ihrer Augen. Zu und auf, zitternd und Angst machend. „Bitte Judy, bleib bei mir. Bleib wach!“ Noch ein Schütteln und ihre Augen fanden endlich Halt in seinen. Ein winziges Lächeln um ihren Mund erschien. „Was ist los? Bin ich eingeschlafen. Ich fühle mich…, so schlapp und todmüde.“
„Ich weiß es nicht Judy, du machst mir Angst. Du warst total weggetreten.“
Der Schleier auf ihren Augen wich zurück aber das Strahlen wollte einfach nicht erscheinen.
„Ich bring dich nach Hause. Aber du musst mir helfen!“
Er half ihr beim Aufstehen und mit ihrer Hilfe nahm er sie Huckepack. Es waren gut zwei Kilometer bis zu ihrem Bauernhof - und es war heiß. Doch er gab nicht auf. Den ganzen Weg trug er sie. Sie half wenn sie bei Bewusstsein war aber immer wieder merkte er, wie sich ihr Körper entspannte und sich das Gewicht auf seinem Rücken fast verdoppelte. Er schaffte es irgendwie nach Haus mit ihr.

Er konnte sich abends überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie beschwerlich der Weg gewesen war. Die Angst sie zu verlieren überstrahlte einfach alles.
Er lag in seinem Bett und wartete. Wartete auf Nachricht und hoffte und betete, dass alles in Ordnung kommen würde.

Es klopfte und sein Vater betrat sein Zimmer. Tim suchte in seinen Augen nach Antworten aber sein Papa war verdammt gut im Bluffen.
Er setzte sich neben ihn aufs Bett und streichelte ihm wie so oft durch die Haare.
„Judys Vater hat eben angerufen. Es geht ihr soweit gut im Moment. Sie muss jedoch noch zur Überwachung ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Es sind auch noch nicht alle Ergebnisse der Untersuchungen da. Also im Klartext heißt das wohl, dass die Ärzte im Moment noch nicht wirklich wissen, was deine Freundin hat.“
„Kann ich sie besuchen?“ „Ich denk schon, dass du morgen nach der Schule hin kannst. Ich werde dich fahren.“ „Danke Papa!“ „Kein Problem mein Freund. Tue ich gerne für dich.“ Es gab den üblichen Kuss auf die Stirn. An der Tür blieb er stehen und sah Tim an. „Ich wollte dir noch sagen, dass ich stolz auf dich bin und du heute Mittag alles richtig gemacht hast. Andere hätten sie vielleicht einfach alleine dort liegen lassen. Du hast sie nicht im Stich gelassen. Das hat mich schwer beeindruckt und Judys Eltern auch. Ich soll dir danke sagen für alles. Aber ich denke das werden die zwei auch noch persönlich machen. Und jetzt versuch zu schlafen.“

Sie umarmten und drückten ihn und Judys Mutter hatte Tränen in den Augen als er im Krankenhaus ankam. Sie sagten so oft danke, dass er total nervös wurde und überhaupt nicht wusste, was er sagen sollte.
„Nun geh schon rein, sie wartet.“, sagte Judys Vater und erlöste ihn mit einem Lächeln.
Auch Judy lächelte und ihre Augen glänzten endlich wieder. Eine Last, wie ein tonnenschwerer Stein, fiel ihm von der Seele. Er ging zu ihr und nahm ihre Hand. „War ich sehr schwer?“, fragte sie mit ihrem sanften Lächeln. „Ach was, du bist leicht wie eine Feder. Gut meine Knie haben die ganze Nacht gezittert aber sonst war alles okay.“ Sie lachten. „Wann darfst du wieder nach Hause? Ich will zum Baum oder zum See und alleine ist das echt doof.“ „Ich weiß nicht, Mama redet ein wenig um den heißen Brei herum und die Ärzte sehen ziemlich ratlos aus. Sie wollen noch mehr Untersuchungen machen. Keine Ahnung warum. Es geht mir eigentlich wieder gut.“
Sie unterhielten sich noch lange. Die Ärzte kamen und gingen. Ihre Eltern kamen und gingen und die zwei versanken in ihrer eigenen Welt.
Irgendwann kam Tims Vater und es wurde Zeit zu gehen. Tim drückte noch mal ihre Hand und sah nach draußen. Am Horizont sah er die Felder und hinter ihnen die langsam sinkende Sonne. Es sah aus, als würde die Sonne dort nach Hause kommen. Die Häuser und Menschen warfen lange Schatten und ein Rabe flog am Fenster vorbei...

2
Fünfzehn Jahre später saß Tim wieder unter der alten Buche. Es hatte sich hier nichts geändert. Die Luft war immer noch klar, die Felder und Wiesen so blühend und unverändert, wie vor Jahrzehnten. Vor drei Jahren war er das letzte Mal hier gewesen, in ihrem alten Versteck. Der eingeschnitzte Text war immer noch zu lesen. Nicht mehr so deutlich wie damals aber in der rissigen Rinde waren die Buchstaben noch zu erkennen. Sie hatten eine wundervolle Kindheit hier verbracht und irgendwie hatte die Zeit hier komplett still gestanden. Damals als sie zehn waren, er und Judy. Der gleiche Platz, dieselben Gerüche. Sie weckten Erinnerungen…

Sie hatte Krebs. Nach drei Tagen im Krankenhaus kam dieses Wort aus allen Mündern. Krebs. Sein Vater versuchte es ihm zu erklären aber er wollte einfach nichts davon hören. Es war seine Judy und nichts und niemand sollte sie ihm wegnehmen auch nicht dieser Krebs. Er weinte nachts und morgens in der Schule war er noch abwesender als sonst. Er hatte keine Zeit für Mathe und Geschichte. Er schlug nur die Zeit tot, um mittags ins Krankenhaus zu Judy zu können.
Es war eine schlimme Zeit. Sie waren eingesperrt in diesem Zimmer und konnten nicht raus aber sie machten das Beste draus. Judy malte ihre Bilder, die trotz der Erkrankung und den Schmerzen immer positiv blieben. Er schrieb seine Geschichten, die leider nicht immer nur von der glücklichen kindlichen Welt erzählten. Er blieb so lange bis die Krankenschwerstern ihn rausschmissen und ging meist zu Fuß nach Hause. Sein Vater hatte ihm zwar angeboten ihn abzuholen aber er liebte diese Stunde für sich allein. Die frische Luft tat nach dem Tag im Krankenhaus gut und er konnte seine Gedanken sortieren.
Nach vier Wochen ging es ihr endlich besser. Die ganze Quälerei im Krankenhaus hatte doch was gebracht, aber es dauerte noch mal vier Wochen bis die zwei endlich mal wieder unter ihrem Baum saßen.
Es war ein schöner Oktobertag und zum Glück nicht ganz so heiß wie das letzte mal.
„Hab ich mich eigentlich mal bei dir bedankt dafür, dass du die ganze Zeit für mich da bist?“ Tim drehte sich zu ihr. „Warum solltest du so etwas tun? Wir sind Freunde und die machen so was füreinander.“ Sie lächelte. „Du bist ein ganz schöner Romantiker.“ „Ich bin ein verdammt guter Läufer und ich denke wir schauen mal wer zuerst am See ist!“

Die Jahre gingen ins Land. Die Sonne versank immer noch am Horizont und immer noch zauberte sie die Schatten hervor, die uns lautlos und stumm das ganze Leben lang begleiten.

Tim stand auf. Für einen Tag waren das genug Erinnerungen. Er musste zu seinem Vater auf den Hof.
Die Begrüßung war herzlich wie immer. Er liebte seinen Paps über alles. Er hatte ihn immer unterstützt, auch vor drei Jahren als er seine Auszeit nehmen wollte. Er hatte sich nicht darüber beklagt, dass er nun keinen Nachfolger für seinen Hof hatte, hatte kein Wort darüber verloren, dass er Tims Hilfe dringend benötigt hätte. Er hatte einfach nur gesagt: „Mein Freund, geh deinen Weg und mach was aus deinem Leben. Leb deinen Traum und sei glücklich!“ Jetzt stand er in ihrer alten Küche und hatte Tränen in den Augen bei diesen Gedanken.
„Na los setz dich Junge und erzähl. Ich hol uns ein Bier.“
Es war eine lange Nacht. Sie redeten und redeten und tranken Bier. Am nächsten Morgen in der Küche sahen die beiden ganz schön zerstört aus. „Warum zum Teufel hast du mir so oft ein neues Glas hingestellt?“ „Weil du es immer wieder leer gemacht hast.“ Sie lachten und schlugen zusammen die Eier in die Pfanne. „Sie kommt immer noch regelmäßig bei mir vorbei.“ Tim sah seinen Vater an und nickte. „Ich werde sie heute Abend besuchen. Immer noch die Schule?“ Zur Antwort bekam er ein Kopfnicken.

„Du bist immer noch verdammt hübsch aber ich glaube du hast ein paar Kilo mehr drauf, als vor drei Jahren.“ Judy drehte sich zu ihm um. Das Glitzern in ihren Augen war immer noch da. Sie lächelte und drückte ihn an sich. „Das war nicht sehr nett von dir!“ „Du bist immer noch das schönste Mädchen weit und breit und das weißt du!“ Sie lächelte und sagte: „Lass uns ein wenig spazieren gehen Tim.“
„Du siehst ganz schön fertig aus. Geht es dir gut?“ „Ja es ist alles bestens, die Begrüßung mit meinem Paps fiel ein wenig heftig aus. Es gab zu viel Bier.“
Sie gingen der Sonne entgegen und ihre Schatten folgten ihnen wie immer. Er erzählte ihr von den letzten drei Jahren. Von der Zeitung, bei der er als Journalist arbeitete und was er sonst alles so erlebt hatte. Es war nicht so toll wie gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte.
„Ich war wohl ein wenig naiv. Der Job laugt einen aus. Ich brauch wohl ne Auszeit von meiner Auszeit.“, sagte er und sah verlegen auf den Boden. „Du bist nicht naiv aber du warst schon immer ein Romantiker, ein Träumer und wolltest die Welt retten sowie du mich gerettet hast. Daran ist nichts Schlechtes. Du musst nur deinen Weg finden und für dich entscheiden was du machen willst.“
Sie nahm seine Hand und sie schlenderten durch die Straßen der Stadt.

Sein Vater war noch wach als er zurückkam. „Wie war es?“ „Schön. Als wäre ich nie weg gewesen.“
Warum ist aus euch eigentlich nie ein Pärchen geworden, ihr wart immer so was wie Bonny und Clyde. Ihr hattet nur Unfug im Kopf und wart den ganzen Tag zusammen.“ Tim lächelte. „Ich weiß es auch nicht. Vielleicht wollten wir nie unsere Freundschaft aufs Spiel setzen oder hatten einfach zu viel Angst es würde alles kaputt machen.“ „Ein Bier?“ „Nein, heute nicht aber ich muss mit dir reden.“

Tim wartete wieder vor der Schule. Als sie ihn entdeckte blieb sie stehen und sah lange zu ihm hin bevor sie auf ihn zuging. „Was ist passiert Tim?“ „Lass uns zur Buche gehen.“
Sie gingen ihren Weg wie immer. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn im Leben eine Sache für immer bleibt. So viel verändert sich. So viele Menschen kommen und gehen. Man trifft so viele Entscheidungen und nicht immer die richtigen, aber dieser Weg zu ihrem Baum hatte sich schon immer richtig angefühlt. Es war etwas das für immer blieb, etwas Magisches. „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht was du jetzt machen willst Tim?“ Sie saßen wie immer mit dem Rücken zur Buche und schauten Richtung Hof.
„Ich hab gestern mit Paps gesprochen. Ich werde bleiben.“ „Das ist schön. Er hat sich mit Sicherheit gefreut und er kann jede Hilfe gebrauchen.“ Tim sah zu den tanzenden Schatten der Blätter auf dem Boden vor ihnen. Das Spiel aus Licht und Schatten, das sich im Wind wiegt. „Ich werde ihm leider keine große Hilfe sein. Ich hab Krebs.“ Judy sah ihn lange an. Er sah wie sich das Wasser in ihren Augen sammelte und als Träne ihren Weg nach unten suchte. Sie nahm ihn in den Arm. „Ich werde für dich da sein!“ „Ich weiß!“
Sie drehten sich noch einmal zu ihrer alten Buche um. „ Die Schatten werden uns nicht vertreiben. Die Dunkelheit gehört zum Leben wie die Nacht zum Tag“ hatten zwei dreizehnjährige vor über zehn Jahren fein säuberlich in die Rinde geritzt.

Sie gingen Händchen haltend zurück, wie sie es immer getan hatten und trieben ihre Schatten vor sich her. Über ihnen zog der Rabe still seine Bahnen…

3
Da war es wieder, dieses grässliche Geräusch. Ich will es nicht hören. „Dreh dich um!“, dröhnt es in meinem Kopf aber ich kann nicht. Regungslos liege ich auf dem Bett. Ruhe! Ich halte die Luft an und horche. Nichts zu hören, nur Stille. Sanfte Stille, die mich wiegt und ich falle… Nein es ist kein fallen. Mehr ein langsames Rutschen oder Gleiten. Ich gleite zurück – zurück in die andere Welt. Ich schließe die Augen.
Etwas kribbelt an meiner Nase. Ich niese und bin hell wach. Unter meinen Händen ist es kühl und feucht - Gras. Mein Gesicht wird gewärmt von der Sonne und in der Luft wirbeln Pollen und kleine Insekten surren durch die leichte Brise. Hinter mir steht die alte, faltige und rissige Buche. Ich kann sie nicht sehen aber sie ist da! So wie sie immer da war. Damals war sie dar, als mein Vater meine Mutter kennenlernte, als seine Mutter ihm erzählte, dass sie schwanger sei, als sie sich im Schatten liebten. Sie war da, als Papa ihn zum ersten Mal über das Feld trug und ihm alles zeigte. Sie war da als Tim und Judy glücklich waren. Sie war da als Judy fast gestorben wäre und sie war da als Tim mit dem Tod um das Leben kämpfte.
Auf seiner Seite der Buche gab es keine Felder. Nur grüne Wiesen, Sonne und Leben. Kein Krebs, keinen Tod. Keine Judy, kein Tim. Und doch kannte er die andere Seite. Kannte die Schatten, die immer da waren und sich nur in der Dunkelheit verstecken konnten.
Damals hatte er mit Tim gekämpft, als er Judy über das Feld trug und er hatte es geschafft. Er hatte beide im Krankenhaus begleitet und sie danach so oft glücklich gesehen. Bis sie erwachsen wurden, Die beiden verloren sich in der Welt der Alten. Verfingen sich in den Klauen der Muss und Solls.
Dann kam Tim zurück nach vielen Jahren und er spürte die Kraft und die Schatten. Das Helle, das Leuchten und das Dunkle, das Schreckliche, das Grässliche. Er saß im Schatten der Buche und spürte all diese Kräfte in sich kämpfen - die Erinnerungen kamen. Die schönen Momente und auf seiner Seite der Buche spürte auch er diese Kraft und doch war es dieses Mal anders. Die Kraft war da aber auch die Schatten und sie waren stark. Sehr stark und mächtig. Mächtiger als er.
Er stand auf und ging zur Buche. Legte seine Hände auf die raue, alte Haut. Spürte das Pulsieren, roch den Duft nach Leben, nach Erde, nach feuchter Luft. Er schloss die Augen und verschwand – tauchte auf - in der anderen Welt. Spürte die Kraft der Buche in seinen Adern schlagen, fühlte die Macht und die Leichtigkeit in seinen Federn. Er spürte, wie der Wind durch die Federn floss. Sie auseinander trieb, sie wieder aufbauschte und ihn durchströmte diese wundervolle Gefühl von Loslassen, von grenzenloser Freiheit. Er schwang seine Flügel und hob ab. Unter sich das goldgelbe Feld, die Spuren der Traktoren, die Spuren der Menschen. Dann sah er den Hof, er glitt mit dem Wind höher und höher und sein Schatten wurde zu einem winzigen Punkt auf der Erde und er fühlte sich groß, stark und leicht zu gleich. Wie damals als Judy kämpfte, flog er auch dieses Mal zum Krankenhaus.

Die Behandlung war grausam. Tim kämpfte. Alles in ihm schrie nach Erlösung aber diese grünen Augen und ihre Hand in seiner, ließen ihn weiter machen. Die Schatten kamen und gingen. Es gab keinen Tag, keine Nacht mehr. Nur noch ihn und die Kräfte, die an ihm zerrten. Zwischendurch nahm er die Ärzte war, die Krankenschwestern, seinen Vater und immer wieder Judy. Er wusste nicht mehr was real und was Traum war. Immer wieder sah er diesen Raben, immer wieder spürte er diesen Schatten - den Schatten von sich selbst. Die Schmerzen gingen wie Wellen durch seinen Körper und doch war da auch Friede, Freiheit und Losgelöstheit – ein innerer Frieden, den er noch nie gespürt hatte und da waren die Schatten von Mama und von ihm – der ihm so nah war und doch so weit weg.

Da war es wieder, dieses grässliche Geräusch. Tim wollte es nicht hören. „Dreh dich um!“, dröhnt es in seinem Kopf aber er kann nicht. Regungslos liegt er auf dem Bett. Ruhe! Er hält die Luft an. Etwas trennt sich von ihm, von seinem Körper – ein Widerhall von sich selbst. Er öffnet die Augen, das helle Licht blendet ihn. Unter seinen Händen spürt er die Laken des Krankenhausbettes. Er versucht es wieder. Jemand steht über ihm und nimmt dem Licht den grellen Schein. Ihre grünen Augen sehen ihn an. In ihnen sieht er Hoffnung, Liebe und doch auch Schmerz und Angst. Er sucht ihre Hand und findet sie. „Hey du“, kommt als leises Krächzen aus seinem Mund und sie lächelt.
Zwei Wochen später macht er seine ersten Schritte durch sein kleines Gefängnis. Drei Mal schafft er den Weg vom Bett zur Tür, von der Tür zum Fenster und zurück zum Bett. Die nächsten Wochen wird es jeden Tag besser und besser. Die Kraft kehrt zurück in seinen Körper und immer wieder spürt er ihn – den anderen, der doch er selbst ist.
Am Tag seiner Entlassung sind Judy und sein Vater da. Er schaut noch einmal aus dem Fenster und der Rabe dreht unbeirrt seine Kreise am Himmel. „Komm Junge, lass uns nach Hause fahren!“, sagt sein Vater und nach über drei Monaten kehrt er zurück ins Leben.
Am Abend saßen sie zusammen in Paps und seiner alten Küche. Es wurde Zeit hier ein wenig zu renovieren, schoss es ihm durch den Kopf und seit langem hatte er das Gefühl mal wieder zu Hause zu sein.
„Ich muss euch etwas fragen!“, Tim sah die beiden an und wusste sie hatten damit gerechnet oder mit dem Gedanken gespielt, ihm heute etwas zu erzählen, falls es ihm gut genug ging. Er erzählte ihnen von seinen Träumen, seinen Gefühlen, seinem Delirium und den seltsamen Gefühlen. Dem Gefühl zerrissen zu werden, dem Gefühl Hilfe zu bekommen und dem Gefühl, das da noch etwas oder jemand war. Jemand wie er selbst, er selbst und doch nicht er selbst. Von dem Gefühl zu sterben und dem Gefühl des Friedens. „Macht das alles einen Sinn für euch?“.

Sein Vater sah ihn an und Tränen liefen ihm übers Gesicht. „Okay, ich muss dir etwas erzählen. Es wird nicht leicht für mich aber auch nicht für dich. Es ist nicht so einfach für mich das alles in Worte zu fassen, was passiert ist, was ich daraus gemacht habe und was ich dir alles nicht erzählt habe.“
Judy nahm Tims Hand und Tims Vater erzählte seine Geschichte: „Du weißt, dass deine Mutter bei deiner Geburt starb und für ich hab meine große Liebe verloren. Ich glaub du kannst dir mittlerweile sehr gut vorstellen, wie es ist einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich hab damals meine Frau, meine Freundin, mein Mädchen, mein Leben verloren und es hätte mich umgebracht, wärst du nicht da gewesen. Vom ersten Moment an spürte ich eine besondere Kraft in dir. Die Kraft deiner Mutter, die so stark war aber da war noch mehr und meine Liebe zu dir war unendlich, wie die zu deiner Mama.“ Er trank einen Schluck Wasser und wieder kamen die Tränen. „Damals ging nicht nur deine Mutter. Du hattest einen Zwilling, auch er überlebte nicht.“
Tim wurden die Knie weich und die Welt um ihn herum drehte sich. Ein Wirbel, ein Strudel der ihn mitziehen und ertränken wollte…

Ich saß auf der Spitze der Buche und sah sie kommen die zwei. Händchen haltend, wie immer gingen sie ihren Weg, den magischen Weg. Sie setzten sich unter die Buche und hingen ihren Gedanken nach.
„Weißt du, es war für mich schon immer ein besonderer Platz. Dieser Platz. Es ist wie das Gefühl nach Hause zu kommen. Wir oft haben wir hier gesessen wir zwei?“ „Sehr oft und wir werden noch oft hier sitzen. Du musst mit deinem Vater reden Tim!“
„Ich weiß. Warum hat er mir das alles nicht erzählt?“ „Ich denke er wollte dich schützen. Du hast überlebt. Er hat überlebt. Ich glaube und weiß, dass er viele Schuldgefühle hatte. Er konnte seine Frau nicht retten, konnte ihr nicht helfen und er wollte einfach nicht, dass du damit leben musst nicht nur deine Mutter verloren zu haben sondern auch einen Bruder. Er dachte einfach es würde dir schaden und du würdest wie er immer mit der Schuld leben, obwohl es weder deine noch seine Schuld war!“
…Tim und Judy hatten es mal wieder geschafft und es wurde Zeit, Zeit zu gehen. Zurück in meine Welt. Ich würde sie noch oft besuchen aber jetzt wurde es Zeit für die andere Seite. Ich drehte noch einmal meine Runde über das Feld und verschwand im Schatten der Buche - im Strudel der Unendlichkeit und das grässliche Geräusch erklang.

Tim sah und hörte den Raben und dieses gruselige Krächzen einer alten, schiefen Tür, die mit Macht zugedrückt wurde. „Dreh dich um!“ Eine Erinnerung erwachte… dieses Geräusch. Er kannte es und doch nicht. „Dreh dich um…“ Dann sah er seine Judy an. Sie hatten sehr viel durchgestanden - zusammen durchgestanden. Die Sonnenstrahlen funkelten in ihrem Gesicht und ihren Augen, als er ihren Kopf zärtlich zwischen seine Hände nahm und sie fragte, ob sie nun endlich seine Frau werden wolle. Er würde zu ihr halten, in schlechten und in guten Zeiten, in dunklen Zeiten und an hellen Tagen. Er würde für sie die Schatten vertreiben und das Leuchten ihrer Augen nie erlöschen lassen…

Ende
 

http://www.webstories.cc 28.03.2024 - 14:39:47