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Mission Titanic - Kapitel 9

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© Francis Dille   
   
Kapitel 9 – Gesucht tot oder lebendig


Als Ike sich mit William Murdoch am Schiffsbug der Titanic getroffen hatte, hatten Marko Rijken und Piet Klaasen zeitgleich die Frachträume sowie den Postraum inspiziert. Die Geheimagenten aus der Zukunft mussten unbedingt sicherstellen, dass der vorderste Schiffsrumpf nicht manipuliert oder mit einem Kraftfeld versehen wurde. Falls sie an der Steuerbordseite tatsächlich eine Installation entdecken würden, wären sie gezwungen, sich in die vordersten zwei Kesselräume einzuschleichen, um die unsichtbaren Schutzschilder dort ebenfalls zu deaktivieren. Dieses Vorhaben wäre jedoch wesentlich schwieriger umzusetzen als im Frachtraum, schließlich arbeiteten in allen sechs vorhandenen Kesselräumen insgesamt 167 Heizer, und zwar in Wechselschichten rund um die Uhr.
Die Frachträume befanden sich im untersten Deck des Schiffsbugs und weil die Agenten als Zweite-Klasse-Passagiere eingecheckt wurden, ihre Kabine sich also im hinteren Abteil des Schiffes befand, hatten sie einen langen Weg dorthin bewältigt, wobei sie zwangsweise einige Bereiche der First-Class durchqueren mussten.
Als Marko und Piet durch den menschenleeren, düsteren Speisesaal der Ersten-Klasse marschiert waren – es leuchtete nachts nur noch spärliches Licht an Bord –, wurden sie von zwei Matrosen überraschend aufgehalten und barsch befragt worden, was sie dort zu suchen hätten. Doch Piet hatte sich zu Missionsbeginn einen Polizeiausweis besorgt, diesen vor deren Nase gehalten und dreist behauptet, dass sie von der White Star Line beauftragte Detektive wären und nur ihren nächtlichen Rundgang machen würden. Piet Klaasen trat selbstsicher und überzeugend auf, sodass die Matrosen schließlich eingeschüchtert abgezogen waren.
Marko hatte seine unerträgliche Übelkeit zwar mit Magentropfen behandelt, diese Piet von einem Schiffsarzt besorgt hatte, dafür wurde er aber nun von einer unbändigen Müdigkeit übermannt. Als beide den vordersten Empfangssaal erreicht hatten, war Marko aufgrund der düsteren Beleuchtung und weil er sich so unbeschreiblich müde fühlte, sogar gegen einen Tisch gelaufen, über einen Stuhl gestolpert und hingefallen, wobei er einen mächtigen Krach verursacht hatte. Aber zu ihrem Glück hatten die wachhabenden Matrosen dieses laute Missgeschick nicht bemerkt.
Während Piet Klaasen dem virtuellen Wegweiser zum vordersten Frachtraum unaufhörlich gefolgt war, dieser seine technologische Nickelbrille ihm angezeigt hatte, war Marko nur gähnend hinterhergetrottet. Er war dermaßen müde geworden, dass er sogar einiges nur noch verschwommen wahrgenommen und manchmal sogar unter Halluzinationen gelitten hatte. Ständig war er stehen geblieben, hatte sich selbst ein paar Ohrfeigen verpasst und krampfhaft versucht, seine Augen offen zu halten. Nachdem beide endlich im untersten Deck angekommen waren, Piet mithilfe seines Transmitters die verschlossene Stahlluke geöffnet hatte, standen sie vor unzähligen Seekisten, die aufeinander gestapelt waren. Ungeahnt davon, dass sich Ike van Broek unmittelbar oben auf dem Bugdeck befand und mit dem 2. Schiffsoffizier der Titanic diskutierte, suchten sie jetzt nach Hinweise, welche die Titanic Katastrophe verhindern könnte.

In den unterteilten Frachträumen war es zwar stockdunkel, aber mithilfe ihrer Nickelbrillen sahen die Geheimagenten alles taghell. Vorsichtig zwängten sie sich an die sperrigen Seekisten und Truhen vorbei und versuchten auf die Steuerbordseite einzusehen, doch Marko stolperte wiedermal und stürzte abermals. Piet war mittlerweile sichtlich genervt, dass sein Kollege, der zugleich die Mission Titanic anführte und somit sein Vorgesetzter war, sich ungeschickt verhielt. Er rückte seinen Bowler etwas zurück und blickte ihn verdrossen an.
„Sag mal Marko, was ist denn jetzt schon wieder mit dir los? Ständig stößt du irgendwas um und lahmarschig bist du obendrein. Du hast doch gesagt, dass es dir jetzt besser geht. Ist dir etwa doch wieder übel?“
Marko zog sich schlaftrunken an einer sperrigen Reisetruhe hoch, kniff seine Augen kurz zu, verpasste sich wiedermal eine schallende Ohrfeige und schüttelte sich.
„Nein, ich bin nur verdammt müde, als hätte ich eine Packung Schlaftabletten geschluckt. So eine verfluchte Scheiße aber auch!“, schnauzte er lautstark. „Daran ist ganz bestimmt diese komische Medizin schuld! Was hast du mir da bloß für ein Zeug gegeben? Jetzt ist mir zwar nicht mehr schlecht und muss mich nicht dauernd übergeben, dafür aber könnte ich auf der Stelle einschlafen!“, schrie er wütend. „Toll gemacht! Du hast mir wunderbar geholfen!“
Piet schwieg einen Moment und blickte ihn nur an, obwohl er seinen Vorgesetzten jetzt zu gerne ebenso lautstark zurechtgewiesen hätte, dass er sich mit seinen Wutausbrüchen etwas beherrschen sollte.
„Das waren bloß harmlose Magentropfen, allerdings welche von den Akteuren. Scheinbar vertragen wir ihre Medizin nicht, sowie unsere Medikamente nicht für ihre Organismen geschaffen sind. Es ist nämlich so: Die Akteure ernähren sich biologisch und atmen natürliche Luft ein, wir dagegen ernähren uns synthetisch und atmen künstlichen Sauerstoff ein. Also werden wir keine Medikamente mehr von ihnen einnehmen, egal was passiert. Die Nebenwirkungen sind einfach nicht abzuschätzen und stellen ein viel zu großes Risiko für uns dar. Außerdem hat der Schiffsarzt mir empfohlen, dass man alle zwei Stunden von den Magentropfen nur einen Esslöffel davon einnehmen soll. Du aber hattest gleich das komplette Fläschchen leergetrunken.“
Marko Rijken nahm seinen hellen Hut vom Boden auf, setzte diesen auf seinen Kopf und blickte ihn entkräftet an, wobei er vor Müdigkeit etwas schwankte.
„Nur einen Esslöffel voll? Und nur alle zwei Stunden? Das hättest du mir verdammt nochmal vorher sagen müssen!“, schnauzte Marko wütend, sodass seine Worte im Frachtraum erneut schallten.
„Ich habe es dir gesagt, aber du hörst ja nicht zu!“, giftete der Zweiundzwanzigjährige zurück. „Und brüll nicht so rum, beherrsche dich. Man wird uns sonst noch hören“, lenkte er flüsternd ein.
Marko Rijken lächelte und nickte.
„Rumbrüllen hält mich aber wach. Aber schon gut, du hast ja recht. War nicht deine Schuld. Mir ging es total dreckig und hatte gedacht, wenn ich gleich alles runterschlucke, dann geht’s mir auch schneller wieder besser. Und so war es ja auch.“

Wiedermal bewies Marko Rijken, dass er ein zäher Knochen und es würdig war, eine Mission anzuführen, dies dem jungen Piet wiedermal beeindruckte. Die Seekrankheit hatte ihn seit dem Ablegen aus Southampton schon genügend zermürbt, nun zerrte auch noch die Müdigkeit an seinem ohnehin geschwächten Körper.
Während Piet auf übereinander gestapelten Überseekisten kletterte, sich ganz oben darauf stellte und mit seiner Nickelbrille die Steuerbordseite scannte, musterte Marko fasziniert ein nagelneues Automobil. Die weinrote Karosse des Ford Modell T mit seinen beigefarbenen, klobigen Kotflügeln und Drahtspeichenräder, entzückten ihn und ließ ihn etwas aufmuntern. Es juckte ihm förmlich in seinen Fingern, die an der Fahrerseite anmontierte Tröte zu betätigen.
„Wow, das nenne ich ein Meisterstück von einem Auto. Der Motor leistet zwar nur 20 PS und ist daher keine Rennmaschine, dafür ist der Ford aber ein wunderschönes, makelloses Sammlerstück und in unserem Jahrhundert einige Millionen Euros wert. Echte Handarbeit hatten Henry Fords Werksarbeiter da verrichtet. Die Karosse ist absolut robust, nicht ein einziges Teilchen Kunststoff wurde verarbeitet. Dieses Baby ist absolut obama. Damit würde ich gerne mal quer durchs Centrum kutschieren.“
„Hey Marko, bist du überhaupt online? Keine Ahnung was du an der Knatterkiste so obama findest. Der Kasten auf vier Räder sieht eher wie eine Kutsche ohne Pferdegespann aus, statt wie ein echtes Auto“, erwiderte Piet Klaasen gelangweilt, sprang von den hölzernen Überseekisten runter, gesellte sich zu ihm und schnaufte erleichtert. „Puh, Glück gehabt, kein Energiefeld zu sehen. Ich war ohnehin nicht besonders erpicht, mich nur mit einer Cordhose und Unterhemd zu verkleiden, genauso wie die Heizer, um dann in den Kesselräumen rumzustöbern, wo sich die restlichen Installer befinden. Nicht bei dieser brütenden Hitze die dort herrscht. Die armen Schweine müssen dort nämlich bei fast 50 Grad Celsius schuften, und das ohne irgendwelche Sicherheitskleidung“, erklärte er. „Mittlerweile halte ich diese Idee sowieso für unwahrscheinlich, dass jemand ein magnetisches Kraftfeld von innen an die Außenhaut des Schiffes installiert hat. Ich habe einen weiteren Download erhalten und einiges über das Leck der Titanic erfahren. Der Schiffrumpf wurde auf der Steuerbordseite circa neunzig Meter lang aufgerissen, allerdings waren die meisten Risse nur wenige Meter lang. Also, um dieses Leck vorzubeugen, hätte man einen ganzen Sack voll Tychnomen benötigt. Der Aufwand wäre viel zu groß gewesen.“
„Tychnomen? Sind das etwa diese Dinger, mit denen man Kraftfelder erzeugt?“, fragte Marko während er zwar sichtlich müde, aber dennoch begeistert das Fahrzeug umrundete und dabei die gepolsterten Ledersitze betätschelte.
„Ja, genau. Ein Tychnom ist nicht größer als eine Münze, haftet auf jedem Material und muss im Abstand von 20 Zentimeter waagerecht oder zu einem Rechteck installiert werden, um ein bevorstehendes Leck abzusichern. Es gibt noch weitere Tychnom-Modelle in verschiedene Größen, die aber hauptsächlich für bereits vorhandene Löcher und Lecks geeignet sind. Wie beispielsweise bei unsere Fabrik in Southampton, dort das Dach ja völlig demoliert ist. Es war einfacher und ließ sich schneller bewerkstelligen, dieses riesige Loch mit größeren Tychnomen zu flicken. Und für Reaktorlecks gibt es spezielle Tychnomen.“ Piet blickte ihn nach seiner Aufklärung verdutzt an. „Sag mal, lernt ihr Schleuser während eurer Ausbildung etwa nichts über die Kraftfeldtechnologie?“
„Einige Schleuser schon, dazu muss man aber Speziallehrgänge besuchen, und diese müssen aus der eigene Tasche bezahlt werden“, antwortete Marko, als er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte und am klobigen Lenkrad drehte. „Aber ich sagte ja bereits, dass ich nur für das frühe Mittelalter und für die späte Antike ausgebildet wurde. Da braucht man solche Dinger nicht und falls doch, dann seid ihr Agenten dafür zuständig. Ich besitze auch nur Grundkenntnisse über Schusswaffen, mehr nicht. Dafür bin ich aber mit dem Schwert, Pfeil und Bogen, Armbrust und jede andere altertümliche Waffe vertraut. Ich weiß also nicht genau, wie man jemand effektiv mit einem Nervengas zur Strecke bringt, dafür aber, wie man jemanden mit bloßen Händen die Eingeweiden rausholt und ihn damit erwürgt. Außerdem lernt man in meiner Ausbildung, wie man seinen Gegner mit dem Schwert einen ehrenvollen Tod beschert“, erklärte er, woraufhin Piet prustete.
„Was gibt’s da zu lachen? Soll ich es dir etwa am eigenen Leib beweisen? Soll ich dir mal die Gurgel umdrehen? Provoziere mich bloß nicht, Kollege, auch wenn du der Sohn des Staatspräsidenten bist“, ermahnte ihn Marko mit wankendem Zeigefinger, wobei man es jedoch an seinem Unterton heraushörte, dass er seine Drohung absolut nicht ernst meinte.
„Nein Marko, ich glaube dir, dass man dich zu einem Barbaren ausgebildet hat. Es ist nur so, dass ich mir dich gerade als einen wilden Highländer, mit Schottenrock und langen Haaren vorgestellt habe“, schmunzelte er.

Während Marko sich mit Piet unterhielt, sah er sich gähnend um. Doch plötzlich wurde er hellwach, als er auf eine der unzähligen Überseekisten blickte. Marko wischte mit seinem Daumen kurz über das Brillenglas, woraufhin er den Inhalt seines fokussierten Schreins näher durchleuchtete. In dieser vernagelten Holzkiste war ein hölzerner Sarg verstaut. Marko erkannte sofort, dass es sich eindeutig um einen altägyptischen Sarkophag handelte. Mit starrem Blick durch seine technologische Nickelbrille auf der Nase liegend, marschierte er sogleich auf diese Überseekiste zu.
„Der Frachtraum ist ja die reinste Schatztruhe“, raunte er begeistert.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, stöhnte Piet entnervt auf, als er ihm folgte „Lass uns endlich zurück zur Kabine gehen und endlich pennen. Ich denke, du bist todmüde. Das Problem ist noch lange nicht gelöst worden, also müssen wir morgen topfit sein!“
Marko Rijken ignorierte ihn, drehte stattdessen vorsichtig am Brillenglas, bis sich der Röntgenmodus einschaltete und zoomte das Objekt nahe heran, bis er die Inschrift des Sarkophags deutlich lesen konnte. Wortlos stand er mit offenem Mund da. Piet verzog seine Schnute und durchleuchtete mit seiner Brille ebenfalls den Inhalt dieser Überseekiste, um herauszufinden, was seinen Vorgesetzten dermaßen faszinierte.
„Unfassbar. Ich glaube, das ist der Sarkophag der Nefertari aus der 19. Dynastie des Neuen Reiches“, raunte er. „Aber noch bin ich mir nicht ganz sicher.“
„Wer zum Geier ist Nefertari?“, fragte Piet naserümpfend.
„Deine Geier Frage ist berechtigt“, erwiderte Marko schmunzelnd. „Die erste Hieroglyphe der Kartusche ist nämlich ein Geier. Unter anderem ist sogar die Feder der Mut abgebildet. Auf der Kartusche steht geschrieben: Neferet iri merit en Mut. Übersetzt heißt es: Die Schönste von allen – Geliebte der Mut. Mut ist eine altägyptische Göttin und wurde als Mutter des Thronfolgers angesehen. Nur die Große königliche Gemahlin eines Pharaos wurde als Mut bezeichnet. Diese Mumie muss Nefertari sein, die erste Ehefrau vom weltberühmten Ramses II, also Ramses der Große. Beide waren damals schon verheiratet, also ungefähr 1220 Jahre vor Christi, als Ramses noch ein Prinz gewesen war und noch sein Vater regiert hatte, Pharao Sethos. Ramses der Große hatte ihr sogar einen eigenen Felsentempel in Abu Simpel errichten lassen, genau neben seinen berühmten Felsentempel. Solch ein gewaltiges Monument hatte ein Pharao, der vom Volk als ein lebender Gott angesehen wurde, seiner Königin noch nie zuvor gewidmet.“
„Okay, diese Felsentempel in Abu Simpel sagen mir was. Und wie ist die schöne Nefertari in diesen Sarkophag gelangt? Ich meine, wie ist diese Königin gestorben?“
„Eine Krankheit hatte sie vermutlich dahingerafft, denn ab dem 24. Regierungsjahr, noch vor der Einweihung beider Felsentempel, wurde sie nicht mehr erwähnt. Ramses der Große hatte seine Lieblingsfrau also überlebt, dieser Pharao wurde ohnehin steinalt und musste sogar einige seiner Söhne und Enkelsöhne beerdigen. Deren Grabinschriften bezeugen es. Der Name Nefertari bedeutet: Die mit dem hübschen Gesicht“, meinte Marko enthusiastisch.
„Du kannst diese primitive Fingermalerei in der Tat entziffern?“, fragte Piet stirnrunzelnd. „Was mir nur zu bedenken gibt ist – hab mal irgendwo gelesen, dass eine Mumie an Bord eines Schiffes Unglück bringen soll, und es kursierte damals das Gerücht, dass auf der Titanic tatsächlich eine Mumie verschifft wurde. Jetzt haben wir den Beweis, dass es tatsächlich so war. Dies wiederum beruhigt mich etwas, denn das sagt doch aus, dass dieser Kahn wirklich verflucht ist und so oder so sinken wird. Ich bin keinesfalls abergläubisch, aber in der vergangenen Welt sind schon so einige denkwürdige Sachen passiert, die wissenschaftlich einfach nicht zu erklären sind. Ist mir aber alles scheißegal, Hauptsache die Titanic sinkt und wir haben unsere Mission erfolgreich erfüllt. “
Marko nahm seine Nickelbrille ab und blickte ihn mit gekniffenen Augen scharf an.
„Selbstverständlich kann ich diese intelligente Handschrift lesen. Schließlich halte ich mich überwiegend im Römischen Reich auf, und unser Exit erfolgt immer in Memphis, in der damaligen Hauptstadt von Ägypten. Dort ist unsere Zweigstelle, unser Büro quasi, genauso wie unsere Fabrik in Southampton. Memphis war in der Antike eine ebenso bedeutende Stadt gewesen, wie Rom. Übrigens, du solltest dem altägyptischen Reich etwas mehr Respekt erweisen, denn es bestand schon einige tausend Jahre länger als unsere moderne Zivilisation, wenn man diese seit der Geburt von Jesus Christus bezeichnet.“ Marko wankte mit dem Kopf. „Tzzz … Da suchten die Ägyptologen des Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Jahrhundert verzweifelt nach Nefertaris Mumie, die im Tal der Königinnen aus ihrem geplünderten Grabmal gestohlen wurde, und dabei liegt sie beinahe 4000 Meter auf dem Meeresgrund des Nordatlantiks.“
„Die Akteure sind doch total beknackt. Welcher Idiot nimmt sich als Andenken aus seinem Ägypten Urlaub eine uralte Leiche mit nach Hause? War das überhaupt erlaubt? Ich meine, gerade jetzt im anfänglichen Zwanzigsten Jahrhundert ging das mit der Ägyptologie doch richtig los. Da hatte die ägyptische Regierung doch peinlichst darauf geachtet, dass ihre Schätze im Land bleiben. Oder etwa nicht?“, hakte Piet nach.
„Das ist richtig, aber Mumien waren damals für die Regierung sowie für die Ägyptologen uninteressant gewesen, nur die Artefakte waren für sie wertvoll. Irgendwelche Spinner hatten damals behauptet, dass der Verzehr von Mumienteile die Potenz steigern würde. Also wurden die Mumien von Grabräubern gestohlen und hatten sie an reiche Leute verkauft. Diese wiederum hatten die konservierten Leichen zermalmt und zu Mixturen verarbeitet und in Apotheken als Wundermittel verkauft. Das war bis in die frühen 1940er Jahren weltweit ein legales und lukratives Geschäft gewesen. Vielleicht hatten sich die Akteure sogar bis in die 1970er, oder noch später, diese abartige Schweinerei reingezogen, trotz dass das Ablaufdatum um ein paar Jährchen überzogen war, nur um angeblich einen schneller hochzukriegen. Wer weiß? Jetzt jedenfalls kannst du dir denken, weshalb der Granit-Sarkophag in der zurzeit 4500 Jahre alten Cheops Pyramide leer ist“, grinste Marko.
Piet blickte seinen Kollegen entsetzt an und hielt ihm seine Hände entgegen.
„Schon gut, sei jetzt still, meine Neugierde ist hiermit befriedigt. Ich will nichts mehr von dem Viagra aus der Bronzezeit wissen. Das ist ja absolut ekelerregend, was sich die Akteure da reingezogen hatten! Da bekommt man ja schon allein vom Zuhören ein Magengeschwür!“

Es war bereits nach Mitternacht, als Marko und Piet zurück zu ihrer Kabine schlenderten, wobei Piet seinen hundemüden Kollegen stützen musste, weil er sogar beim Laufen manchmal einschlief. Piet machte sogar einen kleinen Umweg, beförderte seinen schlafenden Kollegen hinauf zum Promenadendeck, damit er etwas frische Luft einatmen konnte. Doch plötzlich begegnete ihnen eine chinesische Großfamilie, die sich scheinbar auf dem riesigen Schiff verlaufen hatte und verzweifelt nach ihre Dritte-Klasse-Kabine suchten. Der älteste Mann von ihnen – er trug einen Chinesenhut – humpelte mit einem Spazierstock auf sie zu.
„Mista, 你能救我嗎? 我們迷路了?“, fragte er.
Piet blickte ihn ernst an, denn diese Menschengruppe kam ihm jetzt sehr ungelegen. Zumal eine junge Frau unter ihnen war, die einen Säugling in ihren Armen hielt. Zu allem Überfluss fing das Baby an zu plärren.
„Sorry, aber ich kann dich leider nicht verstehen. Mein Kumpel und ich, wir haben es sehr eilig. Understand? Also, zisch ab!“
Aber der alte Mann hielt an seinem Jackett fest und penetrierte ihn weiter.
„你能救我吗? 我们迷路?“, wiederholte der Chinese verzweifelt.
Piet legte seinen schlafenden Kollegen auf den Dielenboden ab, nahm schnaufend seinen Bowler vom Kopf und fuhr mit der Hand durch sein blondes Haar. Es war dunkel, nur die glitzernden Sternen und der kaum sichtbare Halbmond spendeten auf hoher See etwas Licht.
„Verschwindet … Go away! Verpisst euch!“, schnauzte Piet keuchend.
Der alte Chinese blickte ihn mit seinen mandelförmigen Augen emotionslos an.
„你為什麼這麼不友好? 這個男人怎麼了? 他死了嗎!“, schimpfte er lautstark, wobei er mit seinem Spazierstock rumfuchtelte und ihm drohte.
Piet wischte sich den Schweiß aus seinem Gesicht, blickte auf die Großfamilie, die allesamt einen Chinesenhut trugen und ihn ängstlich anblickten. Er rüttelte Marko wach und versuchte ihn an sie vorbei zu schleppen, doch der alte Chinese zerrte erneut an seinem Jackett und schimpfte immer lauter. Piet wurde sichtlich nervös, weil er befürchtete, dass durch das Gezeter die wachhabenden Matrosen aufmerksam werden. Er legte Marko vorsichtig zu Boden – der aufgrund des Geschreis wach wurde und völlig benommen nur zuschaute –, zog seine EM23 und hielt die Pistole dem alten Greis gegen die Stirn, woraufhin dieser verstummte und ihn erschrocken anblickte.
„Wenn du verdammter Akteur jetzt nicht gleich deine Schnauze hältst, knall ich dich ab und werfe dich samt deiner Familie über Bord. Verstehst du diese Sprache?!“, fauchte er ihn zähnefletschend an.
Für einen Augenblick dachte Piet daran, seine Worte in die Tat umzusetzen. Immerhin hatten die Chinesen jetzt eine futuristische Waffe gesehen und es offensichtlich so aufgefasst, dass er ein Verbrecher wäre. Zudem schleppte er einen halbohnmächtigen Mann mit sich herum. Aber als der alte Mann nicht antwortete und seine Familie ihn verängstigt anblickte, endschied sich Piet, diese verarmten Leute zu verschonen. Der greise Chinese konnte sich sowieso nicht in englischer Sprache ausdrücken und dieses Szenario dem Kapitän melden. Zudem hätte ihm die Exekution mehrere Akteure einige Schwierigkeiten bereitet, diese er in seinem Jahrhundert hätte verantworten müssen. Wortlos schleppte Piet seinen Kollegen, der sich todmüde auf seiner Schulter abstützte, über das dunkle Promenadendeck, und sah hin und wieder über seine Schulter, wie die chinesische Familie ihn beobachtete. Aufgrund seines Erbarmens hatte er nichtsdestotrotz die Mission gefährdet und hoffte, dass dieser Vorfall keine unerwarteten Schwierigkeiten bedeuten würde.

Als sie endlich angekommen waren und Piet die Kabinentür aufgeschlossen hatte, schleppte er den schlafenden Marko zum Bett, warf ihn einfach drauf und zog ihm nur noch die Schuhe aus. Piet wischte sich den Schweiß von seiner Stirn, und weil er durch diese Anstrengung und der Aufregung auf dem Promenadendeck nun hellwach war, beabsichtigte er noch draußen auf dem Achterdeck eine Zigarette zu rauchen, um wieder runterzukommen. Er tastete sein Jackett ab, um sich zu vergewissern, dass er sein zerknittertes Zigarettenpäckchen und die Streichhölzer auch einstecken hatte. Marko lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken und schnarchte leise. Dann ging er zur Tür und schaltete das Licht aus.
Als Piet Klaasen den beleuchteten Korridor betrat, die Kabinentür verschloss und neben sich schaute, erstarrte er. Zuerst glaubte er, es sei nur eine Halluzination, weil er eigentlich übermüdet war und es einfach nicht fassen konnte. Zudem hätte Piet auf dem Korridor mit jeder erdenklichen Begegnung gerechnet, jedoch niemals mit ihm. Aber Piet erkannte ihn eindeutig, trotz dass er einen langen Mantel trug und eine Schirmmütze sein Gesicht etwas verdeckte.
Direkt nebenan stand doch tatsächlich Ike, der gerade sichtlich erschöpft seine Kabinentür aufschloss. Und auch er hatte jetzt bemerkt, dass sich noch jemand auf dem Korridor aufhielt, und schaute zu ihm rüber. Beide Männer sahen sich zuerst einen Augenblick nur verblüfft an, dann sogleich aber todernst, wie zwei Revolverhelden, die sich gerade duellierten. Dann zog Piet blitzschnell seine Schnellfeuerwaffe und hielt sie ihm entgegen.
„Rühre dich bloß nicht vom Fleck, van Broek, sonst knall ich dich ab! Meine Waffe ist scharf geladen! Na los, die Flossen hinter deinen Kopf … aber gaaanz sachte!“, fauchte er.
Ike starrte ihm genau in die Augen, gehorchte und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
„Los, runter auf die Knie. Sofort!“, befahl Piet. Wieder gehorchte Ike und kniete sich mitten auf dem Korridor nieder.
„Nur nicht nervös werden, Klaasen. Ich bin unbewaffnet“, lenkte Ike im ruhigen Ton ein. „Komm schon, lass es uns in deiner Kabine austragen und nicht hier mitten auf dem Korridor. Falls uns jetzt ein Akteur sieht, ist unsere Tarnung aufgeflogen und die Mission gescheitert.“
Piet tastete daraufhin mit seiner linken Hand hektisch sein Jackett ab, suchend nach seiner Nickelbrille, wobei er Ike nicht aus den Augen ließ und ihn mit seiner EM23 weiterhin in Schach hielt. Anhand des Röntgenblickes erkannte er, dass Ike tatsächlich unbewaffnet und er obendrein so unvorsichtig war, keine Schutzweste zu tragen. Jetzt hatte Piet ihn endgültig unter seiner Kontrolle. Jetzt war Ike ihm hilflos ausgeliefert.
„Ganz schön dreist von dir, dass du auf der Titanic eingecheckt hast. Und obendrein hast du eine Kabine gemietet, die direkt neben unsere ist. Mann, du hast vielleicht Nerven. Was hattest du vor? Etwa, uns zu belauschen, um die Mission Titanic zu sabotieren? Ich kann mir jetzt sehr gut vorstellen, dass du es bist, der die Titanic vor dem Untergang rettet, damit du dich in Amerika absetzen und untertauchen kannst. Und dann, zwanzig Jahre später, wenn niemand damit mehr rechnet, wirst du das Bankkonto des UE-Geheimdienstes plündern. Ein fast perfekter Plan. Aber jetzt, Freundchen, ja jetzt hat das Katz und Maus Spiel für dich ein Ende“, grinste Piet siegessicher.
„Sei kein Idiot, Piet. Das habe ich sicherlich nicht so geplant. Das wir Nachbarn sind, ist purer Zufall oder wenn ich so darüber nachdenke, ist es sogar Schicksal. Und zwar ein ausgesprochenes glückliches Schicksal. Du kommst mir nämlich sehr gelegen, weil ich deine Hilfe jetzt unbedingt benötige.“
Piets überhebliches Grinsen entschwand allmählich aus seinem Gesicht. Er schaute sich kurz um, aber zu dieser späten Nachtstunde war der hell beleuchtete Korridor menschenleer. Alles war ruhig, alle Passagiere schienen zu schlafen. Nun hielt er seine Schusswaffe mit beiden Händen fest, blickte ihn scharf an und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Schließlich war ihm bewusst, dass man Ike keinesfalls unterschätzen durfte, selbst wenn er unbewaffnet war und seine Aussichtslage hoffnungslos zu sein schien.
War Ike etwa verrückt geworden oder war es pure Überheblichkeit, dass er annahm, irgendein Agent aus United Europe würde ihn in irgendeiner Weise noch beistehen wollen, nachdem was er sich geleistet hatte?
„Du bist wohl nicht mehr ganz bei Trost. Weißt du eigentlich, dass du im ganzen Raum-Zeitkontinuum gesucht wirst, und zwar tot oder lebendig? Deine Mikrosonde ist deaktiviert, man kann dich also nicht mehr orten, und du bist nicht zum abgemachten Termin deines Exits erschienen. Das kann nur eins bedeuten, dass du dich hier in diesem Jahrhundert illegal einzunisten versuchst. Außerdem hast du das UE-Gemeinschaftskonto geplündert und bist mit einem Geldwert von fünf Milliarden Dollar in irgendein Jahrzehnt spurlos verschwunden. Das ist kein Kavaliersdelikt mehr, sondern ein Schwerverbrechen. Du wirst es jetzt zwar abstreiten, weil du es momentan tatsächlich nicht gestohlen hast und es wahrscheinlich gerade nicht einmal planst, aber du wirst es tun. Ich selbst war am 1. April 1912 dabei und habe es gesehen!“
Ike sah ihn schweigend an, während er vor ihm kniete, und wankte nur mit dem Kopf.
„Soll das ein Aprilscherz sein?“, fragte Ike ironisch.
„Ich sage dir jetzt, was ich tun werde“, fuhr Piet fort. „Ich werde meinen Beamer programmieren und dich ins Centrum transferieren. Und du hast riesiges Glück, denn ich beabsichtige dich lebendig zurückzuschicken, damit du dich vor Gericht verantworten kannst und für deine Taten büßt. Aber ich beordere dich nur lebend zurück, wenn du auch brav bleibst und keine Zicken machst. Haben wir uns verstanden, van Broek?“
„Hör mir jetzt genau zu, Präsident Junior, bevor du einen schwerwiegenden Fehler begehst“, erwiderte Ike, wobei er weiterhin auf dem Boden kniete und seine Hände hinter dem Kopf hielt. „Du bist überhaupt nicht dazu befugt, mich irgendwohin zu transferieren. Das darf nur der Missionsführer entscheiden und ich glaube kaum, dass man dir, der erst letztens die Akademie verlassen hatte, das Kommando einer dermaßen wichtigen Mission anvertraute. Du darfst doch nur dabei sein, weil du deinen mächtigen Daddy angebettelt hast. Beziehung ist das halbe Leben, dieses Sprichwort kennt man schon selbst in diesem Jahrzehnt. Normalerweise müsste jetzt ein kompetenterer und erfahrener Agent vor mir stehen und mich festnehmen. Verstehe mich nicht falsch, denn ich beabsichtige nicht dich abzuwerten, sondern berufe mich nur auf die UE-Vorschriften. Also Piet, bring mich sofort zu deinem Vorgesetzten, bevor du irgendeine Dummheit anstellst und ein Zeitparadox auslöst!“, redete Ike streng auf ihn ein. „Das ist deine verdammte Pflicht! Ansonsten wirst du es nämlich sein, der sich vor Gericht verantworten muss, insofern das katastrophale Zeitparadox, welches du mit einer unbedachten Exekution eines unbewaffneten Schleusers auslösen würdest, United Europe dann überhaupt noch existiert! Du weißt doch gar nicht, in welcher Zeitepoche ich mich letztens rumgetrieben habe, was ich dort unternommen und bewirkt habe und dass sich das Blatt nun gewendet hat!“, versuchte er ihn zu überzeugen.
Piet Klaasen jedoch wirkte unbeeindruckt und schmunzelte bloß. Er war zwar noch ein sehr junger und unerfahrener Agent, aber er wusste, dass überzeugend lügen eine der stärksten Tugenden waren, die einen hervorragenden Geheimagenten auszeichneten. Trotzdem musste er in Betracht ziehen, dass Ike die Wahrheit sprach.
„Kein Problem, van Broek. Marko schläft zwar grade wie ein Murmeltier, aber wenn ich ihn wecke und er dich erblickt, wird er sicherlich auf der Stelle putzmunter werden. Er wird sich ganz bestimmt freuen, dich zu sehen und dass ich dich geschnappt habe.“
Ike runzelte die Stirn und stutzte. Seine aufgesetzte Freundlichkeit war augenblicklich verschwunden. Ausgerechnet führte sein Erzrivale Marko Rijken diese Mission an? Einen Augenblick lang war er sprachlos, doch dann antwortete er.
„Wie bitte … Marko etwa? Willst du mir damit sagen, dass Marko Rijken die Mission Titanic kommandiert? Na, das nenn ich mal eine Überraschung.“

Ike nutzte die mittlerweile entstandene Verbundenheit zu seinem Gegner aus. Je länger man seinen Feind hinhält und ihn in ein Gespräch verwickelt, desto eher steigt die Hemmschwelle, dass dieser nicht zu töten beabsichtigt. Dies wurde in jeder Agentenausbildung gelehrt. Er nahm abrupt seine Hände vom Kopf, stand einfach auf, marschierte an Piet vorbei, öffnete die Kabinentür und schaltete das Licht an. Piet war völlig perplex, bedrohte ihn weiterhin mit der Schusswaffe und folgte ihm mit einem gewissen Abstand. Marko Rijken lag immer noch mit ausgebreiteten Armen wie erschossen im Bett, und schlief tief und fest. Als Ike kräftig gegen das Bett trat und brüllte, dass er sofort aufwachen sollte, brummelt Marko nur etwas Unverständliches vor sich hin und drehte sich seitlich um. Daraufhin schnappte sich Ike eine Blumenvase und goss das kalte Wasser über sein Gesicht, woraufhin Marko sofort senkrecht im Bett hockte und sich schüttelte. Zuerst blickte er Ike nur belämmert an, dann schaut er zu Piet und brüllte wütend.
„Sag mal, bist du noch ganz dicht, das Arschloch so nahe an mich ranzulassen, wenn ich schlafe?! Na los, betäube ihn! Sofort! Das ist ein Befehl, Agent Klaasen!“
„Keine Sorge, er ist unbewaffnet“, erwiderte Piet.
„Scheißegal! Betäube ihn!“
„Das-das geht im Moment nicht, weil ich scharfe Munition geladen habe. Sobald ich das Magazin rausziehe, um auf Betäubungsgeschosse umzuschalten, wird er mir die Waffe wegnehmen. Aber wenn du mir befiehlst, dass ich ihn umlegen soll, dann schieße ich ihm in den Schädel“, erwiderte der Blondschopf entschlossen, wobei er seine EM23 mit beiden Händen festhielt und auf Ikes Kopf zielte.
„Denke an deine Karriere, Rijken, triff bloß keine falsche Entscheidung! Weil, ich habe dir etwas mitzuteilen“, meldete sich Ike gelassen zu Wort, holte gemächlich seine Nickelbrille hervor und tippte ein paar Mal gegen das Brillengestell. Die Nickelbrille war praktisch ein kleiner Computer – Ike öffnete einen Dateiordner und suchte nach einem Passwort. Als er fündig wurde, nahm er seine Brille ab und grinste.
„Erklimme den Kilimandscharo“, sagte er und blickte Marko dabei scharf in die Augen. „Erklimme … den … Kilimandscharo!“, wiederholte Ike nachdrücklich.
Marko Rijken saß senkrecht im Bett und starrte seinen Kontrahenten entgeistert an. Dann nahm er das Kopfkissen, trocknete sein Gesicht ab und zog sich die Schuhe an.
„Piet … Waffe runter. Ike übernimmt die Mission“, seufzte er schließlich.
„Was?!“, fuhr es aus Piet empört heraus. „Du kannst diesem Penner doch nicht einfach so das Kommando überlassen! Er versucht uns reinzulegen, er hat sich dein Passwort irgendwie ergaunert! Lass dich doch von ihm nicht verarschen! Er wird doch offiziell gesucht, tot oder lebendig! Diese Ansage kommt direkt aus der Sicherheitszentrale!“
„Piet, du legst sofort die Waffe weg!“, ermahnte ihn Ike. „Wenn das eigene Passwort erwähnt wird, bedeutet das Schichtwechsel, mein Freund. Oder willst du etwa ein Zeitparadox auslösen? Also, Knarre weg, auf der Stelle, oder ich suspendiere dich und beordere dich nach Hause, ins Centrum. Ich bin jetzt der Boss hier, alles klar? Außerdem händigst du mir sofort deinen Beamer aus! Hörst du? Abliefern!“
Als Piet trotzdem nicht reagierte, ihn weiterhin mit seiner EM23 bedrohte und dabei Marko ungläubig anschaute, wankte Ike verständnislos mit dem Kopf und schnaufte.
„So ist das, wenn man mit Grünschnäbeln arbeitet, die sich ihren Posten nur durch Beziehungen ermöglicht haben. Sie erkennen den Ernst der Lage nicht. Marko, dein Anstandswauwau will nicht funktionieren. Tu was dagegen, oder DU wirst die Konsequenzen für diesen Schlamassel verantworten müssen!“, schnauzte er ihn an.
Nachdem Marko auf seinen jungen Kollegen eingeredet hatte, übergab Piet dem verhassten Ike zähneknirschend seinen Beamer. Alle drei Männer waren nach dieser Aufregung sehr müde geworden, schließlich war es bereits kurz vor drei Uhr in der Nacht. Ike führte nun offiziell die Mission Titanic an und war befugt, seinen Kollegen Befehle zu erteilen. Er teilte ihnen mit, dass sich eine Diebin an Bord befinden würde und befahl ihnen, dass sie die vermissten Wertsachen von William Murdoch wiederbeschaffen sollten. Die Ermittlung sollte auf alle Fälle diskret durchgeführt werden. Überdies befahl er ihnen, dass sie sich die Passagierliste vom Zahlmeister beschaffen sollten, um zu überprüfen, ob sich eventuell eine Fremdperson unter den historischen Passagieren geschmuggelt hatte. Dass sich Ike aber eigentlich nur für die Kabinennummer der Zeitreisenden Mara und Jean interessierte, verschwieg er ihnen. Ebenso verschwieg er, dass sein eigener Transmitter verschollen war und er hauptsächlich danach suchte. Ike beabsichtigte die beiden Geheimagenten nur zu beschäftigen, damit sie seinen eigentlichen Plan, Eloise zu retten, nicht durchschauten. Und über den TT, der die Titanic Katastrophe zu verhindern versuchte, würde er sich selbst kümmern. Dies wäre ein Befehl von Henry Gudimard, behauptete Ike. Dann verließ er die beiden Geheimagenten und ging nebenan in seine Kabine, um endlich zu schlafen.

Nachdem die Kabinentür verschlossen war, blickten Piet und Marko sich missmutig an.
„Ich sag dir mal was, Marko. Ike verarscht uns mächtig. Ich glaube ihm kein Wort.“
„Er hat aber mein Passwort erwähnt, somit ist er glaubwürdig. Jetzt sind wir beide leider verpflichtet, seinem Kommando bedingungslos zu folgen. Obendrein hat dieses Arschloch deinen Beamer beschlagnahmt. Nun fühle ich mich äußerst unsicher, weil jetzt Ike in Momenten der Gefahr alleinig entscheiden darf, wann wir aus diesem Jahrhundert flüchten sollen, und wann nicht. Was wissen wir jetzt, was er damit anstellen wird, in welcher Zeitepoche er nun damit reist und was er dort bewirken wird? Aber vielleicht ist auch alles rechtens. Wie auch immer … van Broek ist jetzt unser Chef. Er wurde von Henry offensichtlich dazu beauftragt.“
Piet jedoch lächelte zuversichtlich.
„Mach dir keine Sorgen, Marko. Jeder Beamer wurde personifiziert, was bedeutet, dass nur ich alleine über meinen Transmitter verfügen kann. Mein Beamer wird ihm also rein gar nichts nützen, solange ich nicht seine eigene Dienstnummer einprogrammiere. Ike kann demnach unmöglich durch die Zeit reisen, dies ist ihm eigentlich bewusst. Aber er benötigt meinen Transmitter für einen ganz anderen Zweck und zwar, um seinen eigenen Beamer zu lokalisieren. Eher gesagt, um den Beamer ausfindig zu machen, der auf seine Dienstnummer ausgestellt wurde, damit er diesen benutzen kann. Ein Schleuser besitzt schließlich keinen eigenen Beamer.“
„Ich weiß nicht, was du meinst und worauf du hinaus willst, Piet. Sprich endlich mal Klartext, Junge“, forderte Marko ihn genervt auf.
„Als ihr beide diskutiert hattet, hatte ich ein Signal von einem fremden Transmitter empfangen, hier in unmittelbarer Nähe. Es befindet sich also ein weiterer Beamer direkt auf der Titanic. Und nur auf diesen Transmitter ist er scharf, weil er nur damit auf Zeitreisen gehen kann, kapiert? Und weil jeder die Lokalisierungsfunktion nutzen kann, dazu benötigt man nämlich keine Dienstnummer, hatte ich meinen Transmitter sofort ausgeschaltet, damit er seinen Beamer nicht so schnell findet und um meinen Transmitter wieder einzuschalten, benötigt van Broek einen achtundvierzigstelligen Zahlencode, diesen ich ihn aber nicht verraten werde“, kicherte Piet.
Marko allerdings teilt ganz und gar nicht seine Belustigung.
„Du hast in der Tat deinen Beamer ausgeschaltet?“, fragte er erschrocken. „Sag mal, bist du völlig übergeschnappt? Jetzt sind wir von unserer Gegenwart völlig abgeschottet! Jetzt haben wir jegliche Funkverbindung zum Centrum verloren! Was ist, wenn dein Beamer beim Einschalten nicht mehr hochfährt? Aufgrund der ohnehin dünnen Verbindung wird es etliche Stunden andauern, vielleicht sogar Tage, bis der Transmitter wieder aktiviert ist! Und das funktioniert sowieso nur, wenn der verdammte Satellit direkt über uns fliegt. Eine UE-Vorschrift besagt ausdrücklich, dass ein Transmitter nur in äußersten Notfällen abgeschaltet werden darf!“, schimpfte Marko. „Deinetwegen werden wir mit der Titanic jetzt untergehen, du Narr!“
„Beruhige dich“, entgegnete ihm Piet. „Ich weiß schon, was ich tue. Ich habe da ein paar Tricks auf Lager, wie ich meinen Transmitter wieder schnellstmöglich aktiviere. Vertraue mir, denn ich beherrsche mein Arbeitsgerät. Wir müssen jetzt nur dafür sorgen, dass wir van Broeks Beamer vor ihm finden. Und ich weiß ja jetzt, wo sich sein Transmitter gerade befindet.“
Piet gähnte ausgiebig und legte sich aufs Sofa, und Marko drehte sich auf die Seite und schlief sofort ein. Die Titanic rauschte mit 22 Knoten durch die Nacht über den Nordatlantik. Im hinteren Abteil des Schiffes konnte man erkennen, dass die letzten zwei Lichter beinahe zeitgleich ausgingen.
 

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