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Luzifers Geisterbahn

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© Francis Dille   
   
Endlich war es wieder soweit. Überall in der Stadt waren Plakate aufgehängt worden, dass der Herbstjahrmarkt eröffnet wird. Am frühen Morgen radelte der Platzwart mit seinem Fahrrad auf dem Jahrmarktgelände umher, überprüfte die Lizenzen der Schausteller und vergewisserte sich, dass die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden. Zuerst überprüfte er die Lose- und Imbissbuden, die Kinderkarussells sowie den Autoskooter, bevor er das Riesenrad, das Horrorkabinett und die Achterbahn inspizierte. Es waren jedes Jahr stets dieselben Schausteller und weil man sich bereits persönlich sehr gut kannte, überprüfte der Platzwart ihre Unterlagen nur flüchtig, während er sich mit ihnen freundlich unterhielt.
„Es gibt nichts zu bemängeln. Ich wünsche euch ein erfolgreiches Geschäft“, verabschiedete sich der Platzwart, nachdem er die Pacht einkassiert hatte.
Nun stand eine Geisterbahn auf seiner Liste, dessen Geschäftsführer Eduard Meister hieß. Der Platzwart stutzte, denn dieser Mann war ihm unbekannt und schien das erste Mal auf der Herbstmesse einen Standplatz gepachtet zu haben. Er stieg vor der Geisterbahn von seinem Fahrrad ab und blickte erstaunt hinauf. Auf dem Flachdach war ein riesiger Totenschädel montiert worden, aus dessen Augenhöhlen rotes Licht herausstrahlte, und seitlich griffen mechanisch betriebene Skeletthände nach dem Publikum.
„Steigen Sie ein, meine Damen und Herren. Steigen Sie ein und genießen Sie die Fahrt durch die Hölle“, sprach der Totenschädel mit gruseliger tiefen Stimme, wobei sich der knochige Unterkiefer sogar bewegte. Dann ertönte eine teuflische Lache. Direkt unter dem riesigen Totenschädel war eine Neonbeleuchtung angebracht worden, die den Schriftzug Luzifers Geisterbahn abwechselnd rot und violett aufleuchten ließ. Eduard Meister hockte im Kassenhäuschen und winkte dem Platzwart grinsend zu sich. Auf dem Tresen hatte er ein Schild aufgestellt darauf geschrieben stand: Personal dringend gesucht!
„Huhu, Herr Platzwart. Hier bin ich! Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Tag. Sicherlich wollen Sie meine Lizenzen überprüfen. Hier mein Herr, hier sind sie. Alle in Ordnung und ordentlich geordnet“, kicherte er albern.
Der Platzwart musterte ihn. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit Halbglatze und trug eine altmodische Hornbrille, diese seine Augen riesengroß erscheinen ließen. Während der Platzwart dessen Unterlagen überprüfte fragte er, wo sich seine Mitarbeiter aufhalten würden.
„Die sind alle Mann in der Geisterbahn und arbeiten fleißig wie die Bienchen. Gehen Sie ruhig hinein und plaudern Sie ein wenig mit meinen Leuten. Sie werden sich gewiss über Ihren Besuch freuen, Herr Platzwart“, griente er breit über die Backen und prustete dabei.
Da nun seine Papiere vollständig waren und die Geisterbahn augenscheinlich die Sicherheitsbestimmungen erfüllten, schüttelte der Platzwart mit dem Kopf. Dieser Mann war ihm auf Anhieb unsympathisch, weil er ständig grinste und albern kommentierte. Herr Meister war zweifelsohne eine skurrile Persönlichkeit, die absolut nicht in dieses familiäre Flair hinein passte. Der Platzwart wollte wieder schleunigst verschwinden.
„Nein, kein Problem, Herr Meister. Bei Ihnen scheint alles in Ordnung zu sein.“ Der Platzwart klopfte auf den Tresen des Kassenhäuschens. „Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Geschäft.“
Dann stieg er auf sein Fahrrad und radelte davon.
Die Kirmes füllte sich stündlich mit fröhlichen Gesichtern. Hämmernde Technobeats donnerten über den Jahrmarkt und die Sirene des Taumlers heulte laut auf, als die Fahrt begann. Jugendliche lungerten Kaugummi kauend am Autoskooter herum, Kinder hockten glücklich auf den Karussellpferden und die Achterbahngondeln stürzten sich mit kreischenden Menschen in die Tiefe. Luftgewehrkugeln klackerten in den Schießbuden und der Geruch von Bratwurst, Zuckerwatte sowie von gebrannten Mandeln lag in der Luft.
Vor der Luzifers Geisterbahn versammelte sich eine Menschenmenge. Sie reckten neugierig ihre Hälse und waren verwundert, weil die Leute nach der Fahrt panisch die Gondeln verließen und schreiend davon liefen. Dieses Szenario wiederholte sich ständig, nachdem die Fahrgäste in eine Fahrgondel gestiegen und in einem Drachenmaul verschwunden waren, daraufhin ein grässliches Lachen einer Hexe ertönte und sie nach einigen Minuten wieder auf der anderen Seite erschienen. Plötzlich drängelten sich Motorradrocker, bekleidet mit Lederklamotten und Jeanskutten durch die Menschenmenge und belagerten das Kassenhäuschen.
„Hey du, Glatzkopf. Was ist hier los? Weshalb rennen die Leute alle ängstlich davon?“, fragte ein Rocker mit langen Haaren, langem Bart und grimmiger Miene, der eindeutig der Präsident dieses Motorradclubs war. Eduard Meister glotzte ihn mit seinen riesengroßen Augen aus der Hornbrille an, griente und antwortete: „Weil meine Geisterbahn die schrecklichste der Welt ist, mein Herr. Überzeugt euch doch selbst davon, wenn ihr mutig seid. Ich verspreche euch vor allen Leuten, wenn euch die Fahrt zu harmlos war, dass ich euer Geld zurückzahlen werde.“
Der Rocker packte ihn am Kragen, weil er es wagte, seinen Motorradclub für feige zu halten. Dann schlug er mit der Faust auf den Tresen, genau vor dem Schild darauf geschrieben stand: Personal dringend gesucht.
„Das werden wir jetzt testen, mein kleiner Freund. Ich kaufe Fahrchips, für meinen kompletten Motorradclub. Aber ich warne dich! Wir werden niemals so erbärmlich davon laufen, wie alle anderen, nachdem wir uns dein Kasperletheater angeschaut haben! Wenn uns deine Show nicht beeindruckt, werden wir deine Bude auseinandernehmen und dich zum Teufel jagen! Ist das klar?“
Eduard Meister nickte und blickte ihn mit seinen Glubschaugen grinsend an.
„Einverstanden, mein Herr.“
Die Rockerbande hüpfte mit Bierdosen in ihren Händen haltend in die Fahrgondeln und sie johlten, als sie im Drachenmaul verschwanden und das grässliche Lachen einer Hexe ertönte. Die Leute drängelten sich sogleich zur Absperrung vor und warteten gespannt, bis die Gondeln auf der anderen Seite der Geisterbahn aus der Dunkelheit wieder erscheinen würden. Sie lauschten und hörten wie die Rockerbande im Inneren der Geisterbahn panisch kreischte. Als sie aus der anderen Seite der Geisterbahn wieder auftauchten, sahen ihre Gesichter leichenblass aus und in ihren Augen spiegelte sich die pure Angst. Die hartgesottenen Biker rüttelten panisch am Sicherheitsbügel, schrien dabei hysterisch und als sich diese endlich lösten, rannten sie einfach davon und verschwanden in der Menschenmenge.
Die Leute drängelten sich massenweise vor der Luzifers Geisterbahn, um einen Fahrchip zu ergattern. Sie waren neugierig geworden, weil jeder Fahrgast maßlos verängstigt und fluchtartig die Geisterbahn verließ. Die anderen Schausteller dagegen mussten tatenlos zusehen, wie ihre bunt beleuchteten Karusselle still standen, weil niemand damit fahren wollte. Aber als die wartenden Leute direkt mitbekamen, wie die Fahrgäste völlig entsetzt aus den Gondeln stiegen und davon rannten, verlor dennoch so mancher seinen Mut einzusteigen, obwohl derjenige bereits ein Fahrchip gekauft hatte. Nun war die Fahrt mit der Luzifers Geisterbahn zur Mutprobe geworden.
Der Platzwart und sein Freund Lukas standen etwas abseits und beobachteten skeptisch das Spektakel. Lukas war ein Schausteller, der ebenfalls jedes Jahr auf der Herbstmesse einen Standplatz pachtete und ein Horrorkabinett betrieb. Er war ganz und gar nicht begeistert, dass die Luzifers Geisterbahn seine Kunden praktisch wegnahm.
„Dieser verdammte Eduard Meister ruiniert unser aller Geschäft! Sieh nur, die Leute belagern seine Geisterbahn, kaufen seine Fahrchips, danach flüchten sie vom Jahrmarkt und lassen sich hier nicht mehr blicken. Dieser Mistkerl kassiert mächtig ab und wir gucken alle nur dumm aus der Wäsche!“, schimpfte Lukas.
Der Platzwart nickte und überlegte, wie man diesen unbekannten Kerl legal verscheuchen könnte. Lukas hatte eine Idee.
„Sag mal, besitzt er überhaupt eine Genehmigung dafür, dass er den Namen des Teufels für seine Geisterbahn benutzen darf?“, fragte er.
Der Platzwart rieb sich verheißungsvoll die Hände. Gleich morgen Früh wollte er Herr Meister zur Rede stellen und ihn erneut überprüfen, ob er eine Lizenz für den Namen Luzifers Geisterbahn besitzen würde. Denn falls nicht, müsste der unbeliebte Fremdling sein Fahrbetrieb konsequent einstellen, müsste abbauen, abhauen und die Herbstmesse wäre wieder das, was sie immer war: Ein erfolgreiches Geschäft für jeden anwesenden Schausteller. So wie es jedes Jahr auch gewesen war.
Eduard Meister glotzte den Platzwart verdutzt aus seinen Brillengläsern an, als dieser die beglaubigte Bescheinigung für den Namen Luzifer von ihm verlangte. Der Platzwart belehrte ihn, falls er diese nicht vorweisen könne, müsse er auf der Stelle seine Geisterbahn schließen und verschwinden.
„Aber mein lieber Herr Platzwart“, antwortete Eduard Meister empört. „Seit wann benötigt man denn eine Genehmigung für seinen eigenen Namen?“
Der kleine dickliche Mann übergab ihm seinen Personalausweis und tatsächlich, er hatte beachtliche dreizehn Vornamen und sein vollständiger Name lautete: Eduard, Adolf, Judas, Attila, Saddam, Iwan, Jack, Osama, Josef, Charles, Heinrich, Freddy, Luzifer Meister.
Nur der Teufel persönlich hätte wahrscheinlich mehr Namen vorweisen können.
Sein Personalausweis war nicht gefälscht und polizeilich war dieser Mann auch nicht bekannt. Lukas jedoch gab sich mit dieser unbefriedigten Neuigkeit noch lange nicht geschlagen. Er beabsichtigte eine Fahrt mit der Luzifers Geisterbahn zu unternehmen, um das wahre Erfolgsgeheimnis herauszufinden. Er würde ganz bestimmt nicht, so wie die anderen Fahrgäste, kopflos und panisch schreiend aus der Gondel flüchten. Schließlich besaß er selbst ein Horrorkabinett und war es gewohnt, mit gruseligen Monsterpuppen unter einem Dach zu leben. Er marschierte also geradewegs dorthin und kaufte bei Eduard Meister persönlich ein Fahrchip. Der kleine Mann mit der Halbglatze und Hornbrille grinste ihn wie gewohnt an.
„Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Gruseln, mein ehrenwerter Herr.“
Lukas setzte sich mit verschränkten Armen in die Gondel und blickte grimmig drein. Nachdem er im Drachenmaul verschwunden war und die Hexe scheußlich lachte, verlief die Fahrt plötzlich steil bergab, immer tiefer und tiefer. Unten endlich angekommen, blieb die Gondel plötzlich stehen. Nun befand er sich inmitten einer rot schimmernden Grotte, die neblig rauchte, dessen Boden aus Gitterstäben bestand und daraus unzählige Hände herausragten. Wehleidige Schreie hörte er und als er hinunter blickte, sah er wie Dämonen diese armen Menschen bestialisch folterten und genüsslich auffraßen. Lukas schluckte zwar, ließ sich aber von diesem grauenvollen Anblick nicht einschüchtern. Schließlich waren sie keine Menschen, sondern nur Puppen. Es war nur alles eine Illusion, dachte er sich. Jedoch sahen sie alle real aus, als würden sie tatsächlich leben und leiden. Plötzlich stand der Sensenmann mit seiner schwarzen Robe und Sense leibhaftig vor ihn.
„Hallo, Lukas“, sprach er mit tiefer Stimme und deutete mit seinem skelettierten Zeigefinger auf ihn. „Ich bin der Meister. Schau in meine Augen und du wirst deinen eigenen Tod sehen.“
Als Lukas auf den Totenschädel blickte, sah er in seinen Augenhöhlen einen Heizofen, darin er selbst gefangen war und elendig verbrannte. Lukas konnte sogar die Schmerzen für einen Augenblick spüren. Der Sensenmann verschwand plötzlich spurlos, wie ein Geist, wobei ein grässliches Lachen ertönte. Der sonst furchtlose Lukas erstarrte, weil diese Zukunftsvision, genauso wie alle anderen Gruselpuppen, äußerst realistisch wirkte.
Die Gondel fuhr endlich wieder bergauf, bis sich das Tor öffnete und Lukas das Tageslicht erblickte. Er zitterte und wischte sich seinen Angstschweiß von der Stirn. Seinen eigenen Tod gesehen zu haben, hatte selbst ihn zutiefst erschaudert. Dennoch behielt er die Nerven und fragte sich, wie es Eduard Meister gelingen konnte, solch eine atemberaubende Illusion zu erschaffen. Schließlich befanden sich in dieser Geisterbahn unmöglich reale Menschen, die gefoltert und aufgefressen wurden. Eine unterirdische Grotte, inmitten des Jahrmarktes, hatte er gewiss auch nicht ausgraben können und woher wusste der angebliche Sensenmann, der zweifelslos eine Puppe gewesen sein musste, seinen Namen? Um dieses Geheimnis zu lüften, entschied Lukas, sich als Personal beim Herrn Meister zu bewerben.
Am selben Abend, als die Kirmes wieder eröffnet wurde, wurde der Herbstjahrmarkt erneut von einer beachtlichen Menschenmenge besucht. Und genauso wie am Vortag versammelten sich die Leute ausschließlich vor Luzifers Geisterbahn. Wiedermal mussten alle anderen Schausteller verbittert feststellen, dass ihre Fahrbetriebe unbeachtet blieben. Niemand wollte mit dem Autoskooter fahren, keiner stieg in die Achterbahn ein und selbst das Riesenrad, schien für die Leute uninteressant zu sein. Alle Vergnügungsattraktionen, sogar die Lose- und Schießbuden, standen still und waren menschenleer. Der Herbstmarkt hatte sich ausschließlich auf die Luzifers Geisterbahn fokussiert. Nur dorthin marschierten die Leute und drängelten sich vor dem Kassenhäuschen, um ein Fahrchip zu ergattern.
Der Platzwart war besorgt, weil sein Freund Lukas nirgendwo aufzufinden war. Die Lichter seines Horrorkabinetts waren ausgeschaltet und kein Schausteller konnte ihm verraten, wo Lukas sich aufhielt. Also ging er geradewegs zu Eduard Meister, denn er wusste, dass Lukas dort heimlich spionieren wollte.
„Es tut mir ausgesprochen Leid, lieber Herr Platzwart, aber ich weiß auch nicht, wo Ihr Freund sich momentan aufhält“, sagte Eduard Meister schulterzuckend, wobei er ihn mit Glupschaugen aus seiner Hornbrille anglotzte und gerade in einen Banane biss. „Heute Morgen war er hier gewesen und hatte sich eine Fahrt durch meine Geisterbahn gegönnt. Danach hatte er sich verabschiedet und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber wissen Sie was?“, fragte er albern kichernd, nachdem er seine Banane verschlungen hatte. „Weil meine Geschäft hier in dieser Stadt so gut laufen, spendiere ich Ihnen jetzt eine kostenlose Fahrt. Ich habe nämlich eine nagelneue Attraktion in meiner Geisterbahn, die man aber erst ganz zum Schluss bewundern kann“, meinte er stolz und grinste dabei. Eduard Meister schälte noch eine Banane, mampfte sie und grinste.
Der Platzwart seufzte. Lukas war sicherlich frustriert und mit einem Taxi nach Hause gefahren, um seine Niederlage zu betrinken. Nun wollte er selbst das Erfolgsgeheimnis der Luzifers Geisterbahn herausfinden und weil die Fahrt kostenlos war, nahm er das Angebot an.
„Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Gruseln“, prustete Eduard Meister.
Und wieder verschwand die Gondel in dem Drachenmaul, wobei man das scheußliche Lachen einer Hexe hörte. Der Platzwart staunte, als die Geisterbahnfahrt plötzlich steil bergab ging. Völlig verwundert sah er sich in der rot schimmernden Grotte um und war äußerst schockiert, als er die vielen Menschen unten im Kerker erblickte, die von grässlichen Kreaturen bestialisch gefoltert wurden. Ihre Schreie klangen fürchterlich, als ob ihnen tatsächlich Leid zugefügt wurde. Die Fahrgondel bewegte sich ruckartig in eine Rechtskurve und steuerte direkt auf eine gekreuzigte Frau zu, die jammervoll schrie. Ihr Unterleib war von abertausenden Maden befallen. Die arme Frau wurde beim lebendigen Leibe langsam von dem Ungeziefer aufgefressen. Entsetzt stellte er fest, dass die gekreuzigte Person sehr der obdachlosen Frau ähnelte, die jedes Jahr auf dem Jahrmarkt anwesend war und Pfandflaschen sammelte. Aber der Platzwart ließ sich nicht beirren, denn die Ähnlichkeit mit dieser Puppe war sicherlich nur ein Zufall, dachte er sich.
Die Gondel setzte sich wieder ruckartig in Bewegung und fuhr weiter abwärts. Der Platzwart wunderte sich nur, wie dieser Eduard Meister es bloß geschafft hatte, solch eine perfekte Illusion zu erschaffen. Während die Geisterbahnfahrt immerzu abwärts ging, erblickte er rechts und links Särge, aus denen grässliche Schreie ertönten. Es schien so, als lägen darin tatsächlich Menschen, die darin gefangen waren und panisch gegen die Sargdeckel schlugen. Die Umgebung sah wie eine steinige Höhle aus, wie eine abgrundtiefe Grotte, die rötlich schimmerte und überall krabbelten riesige Spinnen umher, die mit ihren scharfen Kauern zubissen, sich an verwesten Menschenleichen labten und dabei hörbar schmatzten. Der Platzwart war dermaßen angeekelt und verängstigt, dass er panisch an der verchromten Sicherheitsvorrichtung rüttelte, um auszusteigen, davon zu rennen und dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Aber es war zwecklos. Der Sicherheitsbügel zog sich daraufhin nur fester zu. Der Platzwart erschrak, als der Sensenmann urplötzlich aus einem unterirdischen Kerker herauskletterte und sich vor ihm stellte.
„Hallo, Herr Platzwart. Ich bin der Meister. Schau in meine Augen und du wirst deinen eigenen Tod sehen.“
Der Sensenmann ließ seine Sense fallen, hielt die Fahrgondel fest und blickte in sein verängstigtes Gesicht. Völlig entsetzt sah der Platzwart in seinen dunklen, knochigen Augenhöhlen und erkannte sich darin selbst, wie er auf seinem Heimweg von einer U-Bahn erfasst und überfahren wurde. Dies würde geschehen, weil er ab sofort unaufmerksam sein und nur noch an den Tag seines Todes denken würde.
„Nächstes Jahr wird ein anderer Platzwart die Herbstmesse betreuen“, sagte der Sensenmann laut lachend und verschwand spurlos, wie ein Geist. Plötzlich fuhr die Gondel wieder bergauf.
Diese Illusion war wirklich beeindruckend doch er empfand die Scherze, die in der Luzifers Geisterbahn getrieben wurden, viel zu makaber und entschloss, gemeinsam mit seinem Freund gegen Eduard Meister vorzugehen. Diese Geisterbahn musste umgehend geschlossen werden!
Er atmete erleichtert auf, weil es scheinbar beendet war doch kurz bevor sich das dunkle Tor öffnete und die Geisterbahnfahrt vorbei war, hielt die Gondel vor einem riesigen Stahlofen an, darin ein Höllenfeuer loderte. Er konnte sogar die gewaltige Hitze spüren und durch das kleine Bullauge erkannte er ein verschmortes Gesicht. Verzweifelt trommelte dieses arme Geschöpf mit seinen verbrannten Fäusten gegen das runde Bullauge und flehte, hinaus gelassen zu werden. Der Platzwart war vor Schreck erstarrt, denn dieser hilflose Blick in seinen Augen beängstigte ihn ungemein. Zumal das Gesicht des armen Geschöpfes irgendwie Lukas ähnelte.
Der Platzwart öffnete den Stahlbügel, stieg schreiend heraus und drängelte sich panisch durch die Menschenmenge. Eduard Meister hockte in seinem Kassenhäuschen und griente.
„Aber Herr Platzwart, wo wollen Sie denn so schnell hin? Ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen, denn ich benötige noch mehr Personal! Überall werden Oktoberfeste gefeiert. Bald ist Halloween, das ist mein Lieblingstag!“, rief er durch das Mikrofon.
Der Platzwart rannte um sein Leben. Er wollte nur noch nach Hause. Als er keuchend vor dem U-Bahnhof stand, setzte er sich erschöpft auf eine Wartebank. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. War das in der Luzifers Geisterbahn tatsächlich nur eine Illusion oder doch grausame Wirklichkeit, fragte er sich? Der Platzwart blickte zum Gleis, die Straßenbahn rauschte bremsend heran. Er seufzte erleichtert auf. Bald würde er Zuhause sein. Er erhob sich von der Wartebank und trat einige Schritte vor, um schnellstmöglich in den Zug zu gelangen. Dabei trat er auf eine Bananenschale, rutschte aus, fiel hinunter auf das Gleis, und wurde von der heranfahrenden Straßenbahn überfahren.
 

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