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Als das Grauen den Wald verließ - Kapitel 1

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©  AndreaSam15   
   
Alles begann mit dieser Kiste.
Dieses verfluchte, verrostete Ding. Ich hatte sofort gespürt, dass irgendwas geschehen war.
Irgendwas war mit uns geschehen, als wir dieses Ding, dass direkt aus der Hölle zu kommen schien, aus seinem feuchten, modrigen Grab geholt hatten.


Die lange Fahrt an die Küste würde alles andere als gemütlich werden. Die Karre klapperte an allen Ecken und der Motor lief unrund. Nahm ich den Fuß vom Gaspedal, schepperte es metalisch und es klang wie der Husten eines Kettenrauchers kurz vor dem Abnibbeln.
Seit rund fünfzig Kilometern leuchtete eine gelbe Warnleuchte neben dem halbkreisförmigen Tacho.
Ich würde mir bestimmt bald ein anderes Auto klauen müssen.
Obwohl die Sonne erst tief am Horizont stand, war es schon unerträglich heiß.
Nicht mal die Klimaanlage funktionierte an dieser Scheißkarre. Das Fenster ließ sich zwar herunterkurbeln, aber der Fahrtwind erzeugte ein unangenehmes Geräusch, wie ein Presslufthammer der dumpf in den Ohren dröhnte.
Ich mied die Autobahn und nahm die kleineren Landstraßen. Um diese Uhrzeit war wenig Verkehr.
In dem vibrierenden Rückspiegel sah ich, dass ich eine helle weiße Qualmfahne hinter mir herzog.
Es war unausweichlich, ich brauchte ein anderes Auto.
Früher war alles einfach, einmal kräftig am Lenkrad gezerrt und das Lenkradschloss brach. Die Kabel für die Zündung waren in ein paar Sekunden herausgerissen und die Karre war kurzgeschlossen und startklar.
Heutzutage war es nicht mehr so einfach. Wegfahrsperren und der ganze technische Kram, waren für mich nicht so einfach zu überlisten. Klar hörte man immer wieder von Typen, die solche Autos in Nullkommanichts klauen konnten. Das ging schneller als man zehnmal hintereinander 'verdammt' sagen konnte. Aber ich war, was diesen neumodischen Kram angeht, ein Trottel.
Am einfachsten ist es noch, jemanden auf einem Parkplatz eine Knarre an den Kopf zu halten, ihn aus dem Auto zu zerren und dann einfach davon zu fahren.
Allerdings erhöhte das auch das Strafmaß, wenn man erwischt wird. WENN man erwischt wird.
Doch erstens verabscheue ich Gewalt und zweitens ist die Gefahr heutzutage nicht gerade gering, dass diese verdammten Dreckskisten irgendeine Überwachung haben. Dann wird man geortet und bei nächster Gelegenheit klicken die Handschellen.
Ältere Autos zu finden wurde immer schwieriger. Wo ist bloß die gute alte Zeit geblieben?
Ich war auf der Flucht und hatte nicht wirklich Zeit um mich um solche Nebensächlichkeiten wie ein Auto zu kümmern. Genau genommen ist das nur die halbe Wahrheit, ich war nicht nur auf der Flucht, sondern auch auf der Jagd. Ich weiß, das mag sich verrückt anhören, aber genauso war es.

Früher war es ein Kinderspiel. Wenn man ein Ding drehte, klaute man vorher, wie selbstverständlich, irgendeine Karre. Natürlich konnte man auch früher mächtig in die Scheiße greifen, wie damals mit Ringo dem Idioten.
Ich hatte den Plan bis ins kleinste Detail ausgetüftelt und sogar dafür gesorgt, dass weder Ringo noch Sascha in die Nähe von Alkohol kamen. Dann wäre mit den beiden nichts mehr anzufangen gewesen, sie hätten sich wieder ins Koma gesoffen und die Bude vollgekotzt.
Ringo, der Bruder von Sascha, war wirklich ein Idiot und in seiner Latzhose und der dicken Brille, sah er auch so aus. Aber Scheiß drauf, er war loyal, wie ein treuer Hund, machte er alles, was man ihm sagte. Meistens zumindest.
Er hätte niemals versucht, mich übers Ohr zu hauen. Er war doof wie Stroh aber nützlich.
Auch Sascha hatte so seine Probleme mit dem Denken, aber er war schlank und gelenkig und konnte sich durch die kleinsten Öffnungen zwängen.
Das war ein sehr großer Vorteil und öffnete uns manche verschlossenen Türen.
Wie ich bereits erwähnte, konnte man auch mit einer geklauten Karre mächtig in die Scheiße greifen.
Ringo besorgte einen alten VW-Transporter mit Ladefläche.
Das Ding hatte mehr Rost als Farbe, aber was spielt das schon für eine Rolle?
Was aber eine Rolle spielte, fand ich im Handschuhfach. Wir waren gerade losgefahren, um ein Ding zu drehen.
Sascha saß am Steuer, ich durchsuchte das Handschuhfach. Darin fand ich die Zulassung des Transporters und mindestens zehn kleine Tüten mit Gras. Ich nahm die alte zerflederte Zulassung und las den Namen.
Zlatko Babic. Mir wäre fast die brennende Kippe aus dem Mund gefallen, so erschrak ich mich.
„Halt sofort an!“ schrie ich Sascha an. Kaum hielt er an, sprang ich raus und zog Ringo, der auf der Ladefläche saß, herunter.
„Wo hast du verdammter Idiot das Auto geklaut?“
„Beim Schrottplatz, es stand vor dem Schrottplatz.“
„Wem gehört der Schrottplatz?“ fragte ich ihn und musste mich zusammenreißen.
Ringo schien ernsthaft nachzudenken und nach einer Weile stotterte er:
„Ich... ich weiß nicht.“
„WEM gehört der Schrottplatz“ , fragte ich ihn abermals und klatschte mit meiner Hand auf seinen Hinterkopf.
Der Schlag schien zu wirken. Keine Ahnung was in Ringos Kopf vorging, aber viel konnte es nicht gewesen sein. Wie dem auch sei, ihm fiel die Antwort plötzlich ein.
„Babic?“ fragte er vorsichtig.
„Richtig, du verdammter Idiot“ schimpfte ich.
Babic war der Boss einer kroatischen Mafiagang. Mit dem legte man sich besser nicht an. Zumindest nicht, wenn man bei klarem Verstand war. Er war berüchtigt für seine Brutalität.
Scheiß drauf, nun war es zu spät. Wir hatten die Karre geklaut. Das ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Wir fuhren weiter bis zur Bank. Ich blieb mit Sascha im Auto bei laufendem Motor sitzen. Ringo sprang herunter und genau wie wir es abgesprochen hatten, zog er das lange Stahlseil von der Rolle und verschwand damit in der Bank.
„Verdammt, was dauert da so lang“, sagte ich.
Sascha zuckte mit den Schultern.
Noch war alles ruhig, nur wenige Lichter brannten in den Fenstern der umliegenden Häuser.
Endlich kam Ringo wieder heraus. Er hatte einen Holzkeil unter die offene Tür geschoben, so dass sie nicht zufallen konnte. Er sprang auf die Ladefläche und klopfte auf das Führerhaus. Das war das Zeichen zum Losfahren. Das tat Sascha auch. Mit laut quietschenden Reifen fuhr er an. Die ganze Karre wurde ruckartig abgebremst und mit dem Heck seitwärts geschleudert, aber dann ging es butterleicht weiter.
Der Lärm war enorm. Es schepperte und klirrte und im Rückspiegel sah ich Funken fliegen.
Der Plan war es, nur bis zur nächsten Ecke zu fahren, zu dritt den Geldautomat auf die Ladefläche zu werfen und dann fort, so schnell es ging.
Alles lief planmäßig bis zur nächsten Ecke. Als ich sah, was da am Stahlseil hing, war ich kurz davor Ringo in den Kopf zu schießen. Obwohl ich Gewalt ablehne, aber das sagte ich ja bereits.
Am Seil hing kein Geldautomat, sondern der Auszugsdrucker.
Sogar der Richter konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und die Presse feierte uns als das dümmste Räubertrio im ganzen Land.
Denn natürlich wurden wir geschnappt. Auch das hatten wir Ringo zu verdanken. Bei einem Saufgelage erzählte er in der Kneipe von der Karre, die wir abgefackelt hatten und so kam eins zum anderen.
Naja, Schwamm drüber. Zlatko verzichtete auf eine zusätzliche Anzeige, wohl wegen dem Gras, was sich im Transporter befunden hatte. Er saß als Besucher im Gerichtssaal und deutete mit einer Handbewegung an, dass er uns die Köpfe abscheiden wird. Daran hatte ich keinen Zweifel und so war ich sogar froh, dass uns der Richter drei Jahre aufgebrummt hatte. Sascha bekam zwei Monate mehr, vielleicht weil er, als die Anklageschrift vorgelesen wurde, das Ganze mit:
„Das war geil“ kommentierte.
Bei mir und Ringo erkannte der Richter eine gewisse Reue.
Anfangs erzählte ich im Knast herum, ich säße wegen bewaffnetem Banküberfall. Doch der wahre Grund meines Aufenthaltes, ließ sich nicht lang geheim halten. Ich wurde zum Gespött der ganzen Anstalt.
„Hey Micky, da haste mit deinen 62 Jahren ja ein richtig fettes Ding abgezogen.
Wolltest du mit dem Auszugsdrucker Geld drucken?“

Trotz guter Führung saß, ich die Strafe bis zum verdammt letzten Tag ab.
Noch bevor ich entlassen wurde, erfuhr ich, dass Zlatko umgelegt wurde. Paar Typen hatten ihn einfach erschossen und dann in seine eigene Schrottpresse gesteckt.
Ich kann nicht behaupten, dass mir das ungelegen gekommen wäre. Im Gegenteil, besser hätte es gar nicht laufen können. Die Gefahr, dass ich an meinen eigenen Eiern auf gehangen werde, sobald ich entlassen werde, tendierte gen null.
Klar waren da eine Menge Typen, denen ich Geld schuldete, aber die waren alle harmlos.
Man hatte mir eine Wohnung besorgt, zumindest glaubte ich das. Wie sich später herausstellte, war es ein schäbiges Loch in einem wirklich üblen Stadtviertel.
Ich bekam einen Zettel mit Adressen, wo ich mich bewerben könne, in die Hand gedrückt und dann konnte ich durch das große, grüne, quietschende Tor marschieren. Was soll der Scheiß, dachte ich. Ich bin 65 und vorbestraft. Wer in Gottes Namen sollte mich einstellen? Ich hätte mich nicht mal selbst eingestellt, schließlich kannte ich mich am besten. Mit 203 Euro und 60 Cent in der Tasche lief ich also durch das Gefängnistor geradewegs auf die Bushaltestelle zu, die sich keine dreihundert Meter entfernt befand.
Es war ein scheiß trüber Tag, grau, kalt und nass. Kurz dachte ich darüber nach, in den nächsten Laden zu gehen, mir eine Flasche Jack Daniel’s zu holen und meine Bude aufzusuchen. Dann könnte ich mir eine Nutte bestellen, die Flasche in mich hinein kippen und mir das Hirn rausvögeln.
Ich stand als einziger an der Bushaltestelle. Laut Fahrplan würde in zwanzig Minuten ein Bus kommen. Ich zündete mir eine Kippe an, setzte mich auf die Bank und verfluchte das Leben.
Ich sollte mich noch am selben Tag beim Sozialamt melden. Wäre vielleicht nicht verkehrt, dort aufzukreuzen, immerhin musste ich von irgendwas leben, dachte ich.
Im selben Moment kam ein Chevy angerast. Ein 57er Chevrolet Bel Air. Kackbraun.
Er machte eine Vollbremsung und hielt direkt vor der Bushaltestelle.
Ringo sprang heraus und ehe ich reagieren konnte, fiel er mir um den Hals.
„Du bist draußen. Du bist endlich draußen.“ sagte er und freute sich wie ein kleines Kind.
Ich brauchte einen Augenblick um die groteske Situation zu verarbeiten und das erste was mir einfiel war: „Holst du mich etwa mit einer geklauten Karre ab?“
„Nein… is nicht geklaut“, sagte er mit seiner unverkennbaren Stimme, die ein wenig klang wie die Stimme von Harald Juhnke.
Dann fügte er hinzu: „Rubbellos“ und grinste.
Wie ich später erfuhr, war er fünf Monate vor mir entlassen worden, wegen guter Führung. Das hält man doch im Kopf nicht aus, ich saß bis zum letzten Tag in dieser miesen Zelle und war ein Musterhäftling. Scheiß drauf, jedenfalls führte Ringos erster Weg, als er durch das Gefängnistor in die Freiheit lief, erstaunlicherweise nicht in die erstbeste Kneipe, sondern in einen Tabakladen. Er kaufte sich ein Rubbellos und gewann 15.000 Euro.
Das Glück ist mit den Doofen, dachte ich. Allerdings auch das Pech. Man hatte ihm tatsächlich diese kackbraune Rostkarre für 15.000 Euro angedreht.
„Ringo, du bist ein Idiot. Die Kiste ist keine 500 Euro wert.“
„Das ist ein sehr schönes Auto“ protestierte er.
„Es war nicht mal vor sechzig Jahren schön, als es das Werk verließ. Ein Wunder das es noch fährt.“
„Es fährt gut“ wollte er mir weißmachen.
Ich winkte ab. „Scheiß drauf, lass uns hier abhauen. Hast du was von Sascha gehört?“
Er hatte nichts von Sascha gehört und startete den Motor. Wie ich vermutet hatte, war die Karre ein einziger Schrotthaufen. Das Auto fuhr genauso, wie es aussah.
Rückblickend fällt mir auf, dass ich mich nie gewundert hatte, dass Ringo Auto fuhr. Hatte er jemals einen Führerschein bestanden? Heute halt ich das für ausgeschlossen. Und jeder, der Ringo kannte, wird mir da zustimmen. Meine Güte, er konnte ja nicht mal richtig lesen.
Nach einigem Suchen fanden wir meine Wohnung.
Die Zimmer hatten nur teilweise Tapete, in die Küchentür hatte jemand ein Loch geschlagen, das Waschbecken im Bad hing schief. Es war ein einziges Drecksloch. In der Küche hatte jemand die Türen sämtlicher Schränke herausgebrochen, die lehnten jetzt an der Wand unter dem Fenster.
„Hier kann ich nicht bleiben, hier kann man nicht mal ein Schwein unterbringen.“
„Du kannst doch zu mir kommen. Ich hab genug Platz.“
Ich wusste, dass Ringo mit seinen 56 Jahren noch immer bei seiner Mutter lebte.
„Ich stell eine Liege in mein Zimmer und dann können wir vor dem Einschlafen noch bisschen erzählen“, sagte er und war dabei aufgeregt wie ein kleines Kind. Im Grunde genommen war er ein Kind. Nur der Körper passte nicht.
Als ich nicht antwortete sagte er schnell: „Wenn du willst, kannst auch du das Bett haben und ich schlafe auf der Liege. Ehrlich das macht mir nichts aus.“
„Ringo!“
„Wirklich es stört mich nicht.“
„Ringo“ sagte ich nochmal: „Halt endlich die Klappe, lass uns was saufen gehen.“
„Ich… ich trinke nichts mehr.“
„Guter Witz, los komm!“
„Nein, ehrlich ich trinke nichts mehr. Und seit dem, kann ich auch viel besser denken sagt Doktor Löschner.“
„Doktor Löschner, oder wie auch immer, ist ein Idiot.“
Ich drohte ihm mit der Faust und fuhr fort: „Hör mal, du gehst jetzt mit mir saufen, ist das klar?“
„O… OK“ stotterte er.
Wenn ich heute zurück denke, war ich der Idiot und nicht Ringo. Warum hatte ich das getan? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, aber ich schäme mich dafür. Ich glaube fest daran, dass ich dafür in die Hölle komme.

Das Grauen kam sanft und leise. Unmerklich, wie eine Katze schlich es sich auf weichen Pfoten heran, um dann wie ein Tsunami hereinzubrechen und alles unter sich zu begraben. Ich sah es zu spät.
Viel zu spät.

~ Fortsetzung folgt ~
 

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