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Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 6

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© Francis Dille   
   
Kapitel 6 – Die Großen des Reichs


Während Tutanchamun regungslos auf dem Horusthron saß, schwelgte er in seinen Tagträumen und wünschte sich im Augenblick, beiseite seiner Freunde zu sein. Er träumte davon, wie er gemeinsam mit Nefertiri händchenhaltend durch das hohe Schilf am Nilufer entlang schlenderte. Dort beobachteten sie die Flusspferde, fingen Frösche und fütterten die Enten. In seinen Tagträumen zeigte er Nefi überdies, wie man scheinbar schlafende Krokodile, die regungslos im Schilf lauerten und ihr riesiges Maul geöffnet hielten, mit einem Spazierstock ärgerte, bis sie reflexartig zuschnappten und malte sich aus, dass ihn Nefertiri daraufhin, aufgrund seines Mutes, mit einem Kuss belohnen würde. Seine Gedanken schweiften weiter ab und als er sich Nefertiri vorstellte, wie sie mit einem verführerischen Blick langsam ihr Gewand herunter gleiten ließ und schließlich nackt vor ihm stand, verzierte ein spitzbubenartiges Schmunzeln seinen Mund.
Währenddessen diskutierten die Großen des Reichs über mögliche Kriegsstrategien. Der General der ägyptischen Streitmacht, Haremhab, hatte das Wort ergriffen, und es gelang ihm nun auch den letzten Abgeordneten des Komitees von seinen Kriegsabsichten zu überzeugen, die denen vorher skeptisch entgegen gesehen hatten. Langsam lief der General vor dem Horusthron hin und her, wie ein Tiger um seine Beute, wankte manchmal mahnend mit dem Zeigefinger während er sprach und redete pausenlos auf den unaufmerksamen Pharao ein.
„ … Und deshalb ist ein Krieg unwiderruflich, Pharao. Ich entschuldige meine Offenheit, aber dank Eures verstorbenen Vaters sind die Staatskassen sogar seit sage und schreibe zwölf Jahren, seitdem Hoheit Echnaton zu Osiris emporgestiegen ist, immer noch sehr erschöpft und unser Ruf bleibt weiterhin ruiniert. Sogar die nomadischen Stämme belächeln Kemet mittlerweile, was dazu geführt hat, dass Beduinen es letztens gewagt hatten, unsere Expeditionstruppe in der Wüste zu überfallen. Sie hatten jeden gnadenlos abgeschlachtet und unsere Ausrüstung gestohlen. Das ist inakzeptabel, Hoheit!“
General Haremhab war ein furchterregender Mann mit gestähltem Körper und tiefer Stimme, der bei jedem Anlass mit seinem Lederschurz, schwarzweiß gestreiftem Kopftuch und einem ledernen Brustkorbschutz militärisch auftrat. Haremhab schaute den Pharao fragend an. Für einen Augenblick schwieg Tutanchamun, denn er hatte doch eben gar nicht zugehört, sondern sich in seinen Tagträumen beiseite seiner Nefertiri verirrt. Haremhab schlug mit der Faust kräftig in seine Hand, woraufhin ein lauter Klatscher im Audienzsaal schallte. Tutanchamun blickte ihn an und nahm den General nun endlich bewusst wahr.
„Diese Söhne des Seth haben ihren Respekt vor uns verloren, Pharao. Nur ein Sieg über die Nachbarländer werden all diese Barbaren ernüchtern und die Tempelsilos, wie auch Eure Schatzkammern, wieder füllen. Die Götter verlangen es. Amun-Re verlangt es!“, argumentierte General Haremhab energisch und hoffte den Knaben, wie er Tutanchamun insgeheim unter Vertrauten verächtlich betitelte, mit seiner radikalen Veranschaulichung überzeugt zu haben, damit das schwarze Land sich endgültig wieder in Sicherheit wiegen und mit wertvollen Schätzen brüsten könnte.
„Großer Pharao, ich fühle förmlich ein Unheil auf uns zukommen. Phönizien rebelliert bereits gegen uns, indem sie unsere Handelsouten auf der See blockieren, und bald werden auch die Kuschiten oder gar die verfluchten Hethiter über uns herfallen. Diese Bastarde haben sich allesamt gegen uns verschworen und werden gar einmarschieren, wenn wir es nicht vor ihnen tun. Wir müssen ihre Machenschaften mit geballter Faust zerschlagen!“

General Haremhab wurde in Unter- sowie in Oberägypten als ein Staatsheld angesehen und sein Ruhm schallte sogar weit hinaus in die Nachbarländer. Aufgrund seiner listenreichen Kriegsführungen hatten die ägyptischen Krieger unter seiner Führung auf den Schlachtfeldern bisher nur Siege errungen. Er gehörte zu jener Sorte hartgesottenen Männer, die jede Folter über sich ergehen ließen und eher qualvoll sterben würden, als das Vaterland zu verraten oder seinen Glauben an Gott Amun zu verleugnen. Diese Tugend setzte er von seinen Soldaten ebenso voraus und drillte sie dementsprechend. Es gab wohl kaum einen Söldner, der diesen Feldherrn nicht bewunderte und verehrte. Das ägyptische Volk vergötterte Haremhab und seine Feinde fürchteten sich vor dem Vierzigjährigen, der bereits zweimal von feindlichen Bogenschützen angeschossen und einmal sogar von einem Speer schwer verwundet wurde. Dennoch hatte er stets überlebt. Die vernarbten Schwertschnitte, die aus diversen Nahkämpfen resultierten, waren für ihn nicht nennenswert. Die zahlreichen Narben auf seinem Körper erzählten grausame Geschichten von schlachtenreichen Kämpfen. Trotzdem blieb Haremhab bis dato noch am Leben und das Volk behauptete, die Götter persönlich schützen ihn, weil sie ihn brauchen und sie noch etwas Großartiges mit ihm vorhaben. Sein ausgesprochen hartnäckiger Überlebensgeist war jedenfalls denkwürdig, denn zu jener Zeit bedeutete sogar eine harmlose Schnittwunde manchmal, dass wenn sich diese entzündete und das Fieber eintrat, die Begegnung mit dem Totengott Osiris.
Gespannt schauten die Großen des Landes auf den erhöht sitzenden Pharao. Minutenlang hielt die Stille im Audienzsaal. Tutanchamuns Blicke wanderten umher. Er hatte zwar gerade nicht zugehört, dennoch wusste er Bescheid, worüber man diskutierte aber sein Entschluss stand bereits fest. Tutanchamun hatte sich nur nicht getraut, diese Debatte vorzeitig zu beenden, dazu fühlte sich der allzu junge König wiedermal etwas zu befangen, schließlich waren die bedeutendsten Staatsleute gerade anwesend. Kemet wird sich nicht zu rasch provozieren lassen und niemals einen Krieg anfangen, genauso hatte er es mit Anchesenamun besprochen. Solange man die ägyptischen Armeen, die an allen Landesgrenzen patrouillierten, nicht attackierte, sollen auch keine kriegerischen Handlungen unternommen werden. Auch nicht auf dem Meer. So hatte das junge Königspaar einstimmig beschlossen, nachdem sie letztens bis spät in die Nacht über dieses Thema angeregt diskutiert hatten, während sie das strategische Brettspiel Senet gespielt hatten.

Tutanchamun fehlte es keineswegs an Mut, in einer Schlacht mitzukämpfen, genauso wie es seine Vorahnen getan hatten. Oftmals schwärmte er Anchesenamun sogar temperamentvoll vor, wie sehr er sich an der Front zu kämpfen wünschte und abertausende Soldaten mit dem Streitwagen zum Angriff befehligen würde. Aber die Königin redete ihm stets ins Gewissen, dass ein kluger König jederzeit diplomatisch entscheiden und handeln müsse, und ein Krieg nur die absolut letzte Option sein dürfe. Vielmehr sollte er sich um einen Thronerben bemühen, meinte sie stets.
Tutanchamun sah seine Flausen schließlich ein und stimmte der Königin letztendlich kleinlaut zu, zumal er sowieso insgeheim nur darauf bedacht war, die Monumente seiner Vorfahren zu erhalten und zu verschönern, damit sein Land noch etliche hundert Jahre später prachtvoll erhalten bleibt. Krieg empfand er zwar wie ein spannendes Abenteuer aber er konnte sich nicht wirklich vorstellen, einen Menschen zuerst direkt in die Augen zu schauen, um ihn dann eigenhändig mit dem Schwert niederzustrecken. Dieser Gedanke widerstrebte ihm obwohl ihm bewusst war, dass bei jedem Kampf um ein Territorium unweigerlich Menschen sterben würden. Man muss sein Land und dessen Werte vor jedem Feind unbedingt verteidigen, war dem siebzehnjährigen Pharao bewusst. Aber wäre ein Friedensabkommen mit allen Nachbarstaaten etwa nicht die Lösung, fragte er sich.
Seitdem Tutanchamun die Schreiberschule in Theben besuchte und die Priester ihn die Historie der Pharaonendynastien lehrten, begeisterte er sich eher für die Bauwerke seiner Urahnen und allen Pharaonen, die hunderte, ja sogar über tausend Jahre vor ihm regiert hatten. Alle heiligen Monumente im Land, wie beispielsweise die uralten Pyramiden am Nildelta, waren bislang in einem exzellenten Zustand geblieben, weil die vergangenen Pharaonen die monumentalen Bauwerke regelmäßig restaurieren ließen. Ägypten, Kemet, war sein Erbe und Tutanchamun fühlte sich dazu verpflichtet, es zu erhalten und das schwarze Land mit neuen Bauwerken zu erweitern. Seitdem er zwölf Jahre alt war, ließ er nach und nach reparierbedürftige Gebäude restaurieren. Aktuell ordnete Tutanchamun die Erweiterung des großen Amun Tempel in Karnak und die Restaurierung der Sphinx im Nildelta an. Überdies wurde zeitgleich in der oberägyptischen Wüste Theben-West, im Tal der Könige, an seiner Grabkammer gearbeitet, was trotz seines jungen Alters nicht ungewöhnlich war.
Jetzt erhob der Pharao das Wort, während er weiterhin, mit Geißel und Krummstab über seiner Brust überkreuzt, starr auf dem Horusthron saß.
„Ich werde mich persönlich vergewissern und alle Schatzkammern der wichtigsten Städte begutachten. Ich will die Finanzen sehen! Man möge die königliche Barke zur Reise vorbereiten, denn ich gedenke, schon morgen früh mit der Großen königlichen Gemahlin alle Nilstädte zu besuchen und werde mir vor Ort die Schriftrollen zeigen lassen. Was die Blockade innerhalb unserer Handelsroute angeht, so sende ich eine Kriegsflotte dorthin. Die Blockade muss zerschlagen werden, damit der Handel mit Ägypten weiterhin gesichert bleibt. Der Anblick meiner Kriegsschiffe wird die Phönizier gewiss einschüchtern, sie besinnen und zum Rückzug zwingen. Die Königin und ich sehen einem kampflosen Sieg optimistisch entgegen. Falls dem aber nicht so sein sollte und die Phönizier es in der Tat wagen, die Faust gegen Kemet zu erheben, möge General Haremhab nach seinem Ermessen verfahren und die Ordnung auf dem Meer wiederherstellen. Vorher werde ich keine Kriegserklärung auf irgendeinem Papyrus unterzeichnen. So soll es geschehen!“

So soll es geschehen. Sprach ein Pharao diesen Satz, so bedeutete dies das Ende jeglicher Diskussionen. Daraufhin mussten alle Anwesenden den Raum unverzüglich verlassen. Nur Eje sollte bleiben, weil Tutanchamun diesmal wieder seinen großväterlichen Rat erwünschte.
„Geehrter Eje, du warst immer wie ein Vater für mich und ich vertraue dir, so wie es mein Großvater und mein Vater getan haben. Bevor es vielleicht zu einem Krieg kommt und ich an der Front kämpfen muss, brauche ich einen Sohn, einen Thronerbe, damit meine Dynastie nicht ausstirbt. Ich habe dir jahrelang verschwiegen, dass ich mich gelegentlich unter mein Volk begebe. Schon vor einigen Jahren habe ich wirkliche Freunde in meinem Alter gefunden und ich erwünsche sie nun an meiner Seite, hier im Königspalast. Außerdem gedenke ich, mich mit einer Nebenfrau zu vermählen. Sie ist aber eine Frau aus dem Volk. Großmutter Königin Teje war ebenfalls eine Frau aus dem Volk, dies sollte demnach kein Problem darstellen, falls der Hohepriester des Amun gegen meinen Entschluss etwas einzuwenden hätte.“
Zudem schwärmte Tutanchamun ausgiebig von dem Schlangenherrn aus Memphis und erwähnte, diesen Mann ebenfalls in seinem Palast aufzunehmen und ihn für seine Unterhaltung reichlich zu belohnen. Dieser, so meinte Tutanchamun, sei gewiss ein weiser Mann, von dem er sehr viel lernen könnte. Ein Schlangenbeschwörer wisse die Angst zu beherrschen und dieses Geheimnis müsse er unbedingt lüften, gab er dem Wesir zu verstehen.
Eje verschränkte die Arme hinter seinen Rücken und wandte sich dem Balkon zu. Mit einem finsteren Blick mit geschminkten Augenlidern starrte er hinaus in die Ferne. Das westliche Talgebirge der Wüste verschlang in diesem Moment langsam die feuerrote Sonne. Sein geliebtes schwarzes Land, für das er bislang lebte, lag in der Tat in den Händen eines Kindes, wie er nun enttäuscht feststellen musste. Möglicherweise würde es noch Jahre dauern, bis aus dem Bengel ein wahrer König gedieh und bis es soweit wäre, könnte das Reich längst zu Grunde gegangen sein, so wie es unter der Herrschaft seines Vaters Pharao Echnaton beinahe geschehen war, befürchtete Eje. Nun beabsichtigte der König sogar irgendwelchem Gesindel, das bislang nur in den schäbigen Gassen von Memphis gehaust hatte, im Königshaus Asyl zu gewähren. Was Eje aber wirklich zu schaffen machte war, dass Hoheit scheinbar unbeirrbar dazu entschlossen war, sich mit einem dahergelaufenen Mädchen zu vermählen und sie somit zur Königin des Nils zu krönen. Dies könnte in einem Desaster enden. Blinde Liebe, das wusste der erfahrene Staatsmann, könnte des Pharaos Vernunft rauben, ihn stark beeinflussen und ihn letztendlich töricht handeln lassen. Eine unbedeutende Frau aus dem Volk denkt schließlich ganz anders, als eine wahre Königin, die seit ihrer Geburt im Königshaus behütet aufwuchs. Da wäre ihm sogar eher die Große königliche Gemahlin Anchesenamun angenehmer, weil sie mit den Gegebenheiten des Königshauses vertraut war und man sie einschätzen konnte. Aber wie würde eine Frau aus dem Volk reagieren? Sich doch hauptsächlich dafür einsetzen, was die Armen aus dem Volk bekümmert. Und der Pharao würde letztendlich das befehligen, was seine Geliebte ihm vorgibt. Welche Torheit wird sich dieser Träumer wohl als Nächstes ausdenken? Gar ein Friedensabkommen mit den verhassten Hethitern, weil ihm eine Nebenfrau diese Flause, barmherzig zu sein, lieblich eingeredet hatte? Das konnte und wollte Eje nicht hinnehmen. Nicht schon wieder! Diesbezüglich ähnelte Tutanchamun seinem Vater verblüffend, aber auf einen Pharao, der wieder alle Regeln brechen würde, darauf konnte Kemet wahrlich verzichten und Eje war absolut davon abgeneigt, erneut solch einen König zu folgen.

„Wer sind Pharaos Freunde und wie ist der Name dieses Mädchens?“, fragte er mit fester Stimme, während der Wesir hinaus auf das Talgebirge starrte.
„Das-das möchte ich nicht verraten, geehrter Eje. Jedenfalls jetzt noch nicht, denn meine Freunde ahnen gar nicht, wer ich wirklich bin. Ich werde sie nach meiner Reise darüber in Kenntnis setzen“, stammelte Tutanchamun. Eje wandte sich dem Pharao wieder zu und blickte ihn mit seinen geschminkten Augenlidern gekniffen an.
„Hat Pharao die Große königliche Gemahlin von seinem Vorhaben wenigstens schon in Kenntnis gesetzt?“, fragte er geradeheraus.
Normalerweise war dies eine bodenlose Frechheit, einen König dermaßen in Verlegenheit zu bringen. Dies hätte sich Eje bei seinen bereits verschiedenen Königen, Amenophis III und Echnaton niemals erlaubt. Aber wer war schon Pharao Tutanchamun? In Ejes Augen bloß ein unwissender Knabe, den er aufwachsen sah und der mittlerweile nichts weiter im Sinn hatte, als sich mit dem Volksmenschen gleichzustellen und überdies auf die Tricks lausiger Schlangenbeschwörer hereinzufallen. Außerdem stand der Pharao immer noch unter der Vormundschaft des Wesirs. Eje war für den König von Ägypten verantwortlich und befugt dazu, über Pharaos Gedankengut mitzuentscheiden. Noch jedenfalls.
„Pharao, höre mich an. Du bist noch sehr jung und ahnst nicht, dass der Dolch der Eifersucht Hoheit gefährlicher werden könnte, als das Schwert auf dem Schlachtfeld.“ Eje sprach mit erhobenem Zeigefinger. „Lerne aus den Fehlern deiner Ahnen, Tutanchamun. Neid, Missmut und Intrigen werden das Königshaus überschatten, wenn du dir eine oder mehrere Nebenfrauen zulegst, sie gar heiratest. Wenn Pharao dieses Mädchen haben will, dann nehmt es einfach und vergnüge dich, aber verärgert die königliche Gemahlin lieber nie, indem Pharao sich unbedacht vermählt und dies später bereuen, ja, Er sich wohlmöglich später gar selbst einen Narren heißen wird. Bedenkt, mein Pharao, dass eine Nebenfrau sich ebenfalls eine Königin heißen darf, jedoch wird sie niemals die Große königliche Gemahlin in der Gesellschaft ersetzen. Trotzdem würdest du, Pharao, ein unbekanntes Mädchen, das wohlmöglich nicht einmal lesen und schreiben kann und nichts weiter in ihrem Leben getan hat, als die Hausordnung aufrecht zu erhalten, zu einer Königin des Nils krönen. Sei dir dessen bewusst, Pharao Tut-anch-Amun“, sprach der Wesir von Ägypten und redete ihn bewusst mit seine Eigennamen an, um den jungen König zum Nachdenken anzuregen.
Tutanchamun schaute verschämt zu Boden. Eje lächelte und klopfte ihm behutsam auf die Schulter.
„Gewiss, geht diese Reise über den Nil an und lernt dein wundervolles Land kennen. Die Zeit ist nun gekommen. Danach werden Pharaos Gedanken wieder so klar sein, wie das Wasser im Nil. Es ist dein Volk, Pharao. Es soll endlich sehen, dass Eure Hoheit kein Kind mehr ist. Zollt allen Göttern vor den Augen des Volkes deinen Respekt, und das Volk wird dich wie einen Gott verehren. Begutachtet die Bauwerke deiner Vorgänger, und du wirst erkennen, mein Großer Pharao, das Ägypten die Weltmacht ist und alle anderen Völker sich dem schwarzen Land beugen müssen. Du wirst es schließlich einsehen, dass Krieg zu führen keine Schande ist, denn der Wille der Götter muss geachtet werden. Die Götter sind es, die uns herausfordern und uns prüfen, ob unser Volk ein prächtiges Land wie Ägypten überhaupt verdient.“ Eje ging in seinem Element auf, verschränkte die Hände wieder hinter seinen Rücken, stolzierte umher und fuhr fort. „Dein Ruhm und dein Name wird noch tausende Jahre später in sterblichen Ohren erklingen, wie eine unsterbliche Melodie. Du wirst deine Pflicht, das Reich kompromisslos zu erhalten und es vor jedem Feind unabdingbar zu beschützen erkennen, wenn du einmal die Gottes Bauwerke des Pharao Djoser, des Snofru, Chufu, Chephren und des Menkaure aus einem anderen Blickwinkel betrachtest.“

Wenn Eje von der Heimat Ägypten erzählte, ging Tutanchamuns Herz auf. Dann wirkte der konservative Wesir wie ein liebevoller Großvater, der geduldig seine Fragen beantwortete und in dessen Arme er sich gerne schmiegen mochte, während er dabei gespannt nach seinen Worten lauschte. Eje erzählte kraftvoll und mit so viel Elan, dass Tutanchamun seiner Begeisterung schnell verfiel. Seine Worte waren berauschender als der kostbarste Wein und erzeugten in seinen Sinnen farbenfrohe Bilder. Pharao Tutanchamun hatte alles, wovon sogar mancher Großkönig aus anderen Ländern nur zu träumen vermochte. Er regierte ein prachtvolles Land, verfügte über unendliche Macht, besaß die wertvollsten Schätze der Welt und in seinem Palast schlenderten die begehrenswertesten Frauen durch die Galerien. Für Tutanchamun galten keine Grenzen, er stand über dem Gesetz. Was immer er befahl, würde geschehen. Aber um zu begreifen, was unendliche Macht tatsächlich bedeutete und eine solche gewissenhaft einzusetzen, so wie es die Götter abverlangten, musste er leibhaftig erfahren und nicht nur sein Wissen aus den Papyrusrollen herauslesen. Es schien eine Bedingung zu sein, dass er mit seinen eigenen Augen erblicken musste, was seine Vorfahren vor tausenden Jahren erschaffen hatten. Leibhaftig, anhand der eingemeißelten Innenschriften der Obelisken, musste er unbedingt erfahren, dass sein Volk in verbitterten Kriegen ihr Blut vergossen hatte und nur somit das mächtige Reich Kemet entstanden war. Tutanchamun musste jetzt endlich lernen, ein wahrer Pharao zu sein. Die Zeit war nun gekommen.
Eje musste sich jedoch langsam eingestehen, dass ihm der junge Pharao allmählich entglitt. Als Tutanchamun noch ein Prinz war und er mit sieben Jahren zum Pharao gekrönt wurde, war es noch ein Leichtes gewesen, ihn zu kontrollieren und zu beeinflussen. Der wortgewandte Mann, der zudem drei Fremdsprachen beherrschte, startete seine politische Karriere als Achtzehnjähriger unter der Herrschaft des Pharao Amenophis III und diente dem Königsclan seither loyal und treu ergeben. Während seiner Laufbahn unterstand ihm Ober- und Unterägypten, er wurde sehr mächtig und übte einen großen Einfluss auf die Tempelpriester aus, was zu jener Zeit selbst für Pharaonen manches Mal schwierig war. Die Tempel waren Gotteshäuser und die Priester verwalteten ihre Silos und Schatzkammern selbst. Über die wertvollen Opfergaben durfte der Pharao nicht einfach entscheiden, diese Zeiten waren seit Beginn des Neuen Reiches lange vorbei. Diese Entscheidung verlangte immer das Einverständnis des zuständigen Hohepriesters und dem Komitee. Korruption war eine Möglichkeit, die Tempelpriester zu überzeugen aber dafür benötigte man jedoch feinstes Fingerspitzengefühl.
Eje war äußerst begabt, geschickt im Verhandeln und erwies jedem einen Gefallen, der zugunsten des Königshauses und vor allem nach seinen Willen handelte. Außerdem stand seine Gemahlin Tij – eine ebenso angesehene sowie geschätzte Persönlichkeit in der Gesellschaft des Königshauses – ihm mit Rat und Tat beiseite und sie war jederzeit bereit, für seine Machenschaften mit ihrem Leben zu bürgen. Diese Eheleute genossen während Tutanchamuns Amtszeit den Rang eines Königspaares – Eje fungierte bis dato noch als der Vormund des Pharao und das nun schon seit zehn Jahren. Der Wesir hielt die Pschent-Krone (Doppelkrone, die die Vereinigung von Unter- und Oberägypten symbolisierte) praktisch in seinen Händen und das Volk war zufrieden.
Die Tempelpriester in Ober- und Unterägypten zogen in Erwägung, falls Pharao Tutanchamun frühzeitig nach Westen gehen würde, dass Eje daraufhin den Horusthron besteigen sollte. Aber in Anbetracht des Altersunterschiedes war es äußerst unwahrscheinlich, dass Eje den jungen Pharao, der sich gerade in der Blüte seines Lebens befand, je überleben würde. Es sei denn, dem Pharao würde ein Unheil zustoßen oder ihn eine Krankheit heimsuchen. Dann wäre Eje zweifelsohne ein begehrter Anwärter auf die Krone Ägyptens, was ihn aber noch lange nicht zu einem Pharao legitimieren würde. Um zu einem Pharao gekrönt zu werden, um die Doppelkrone zu tragen, musste die Vermählung mit der Großen königlichen Gemahlin vollzogen werden. Allein nur Anchesenamun dürfte dann entscheiden, falls sie sich mit einem Diener Kemets oder einem Ausländer vermählen würde, ob ihr neuer Gemahl zu einem Pharao oder nur zum König des Landes gekrönt werden würde. Andernfalls würde die Königin zum Pharao gekrönt werden, falls der Hohepriester des Amun dies bewilligen würde. Die Möglichkeit, Pharao zu werden war für Eje also durchaus gegeben und Tij dürfte sich sogar die Große königliche Gemahlin nennen, falls auch die jetzige Große königliche Gemahlin Anchesenamun ebenfalls unverhofft sterben würde.

Königin Anchesenamun bereitete Eje aber zusätzliche Probleme, anstatt über eventuelle Heiratsabsichten mit dem Wesir nachzudenken, falls Tutanchamun tatsächlich frühzeitig ableben sollte. Sie übte, genauso wie Eje, einen großen Einfluss auf den jungen Pharao aus, zumal sie sechs Jahre älter war als er und ihn aufrichtig liebte. Alle bisherigen Entscheidungen trafen sie gemeinsam und es war abzusehen, dass beide diese Abmachung weiterhin so beibehalten würden, worüber Eje nicht sehr erfreut war. Die Königin durchkreuzte in letzter Zeit zu oft seine Pläne, woraufhin er Tutanchamun erneut überzeugen musste und dies dem alten Mann allmählich seine Nerven strapazierte. Zwar hatte Anchesenamun keinerlei Ahnung von Politik, dafür aber umso mehr über die Gegebenheiten eines Königpaares und so wusste sie seit ihrer Kindheit, dass beide praktisch unantastbar waren. Seitdem die Halbgeschwister gekrönt worden waren, waren sie trotz des Altersunterschiedes unzertrennlich und beinahe täglich zusammen gewesen. Anchesenamuns Mutter, die ehemalige Große königliche Gemahlin Nofretete, hatte ihre zweitgeborene Tochter stets in ihre Obhut genommen und sie gelehrt, was es bedeutet, eine wahre Königin von Ägypten zu sein. Die Große königliche Gemahlin hat Opfer zu bringen und existiert lediglich, damit die Dynastie nicht ausstirbt und dass sie den Pharao stets unterstützt, hatte Nofretete ihrer Tochter eingetrichtert. „Eines Tages“, hatte Nofretete mit erhobenem Zeigefinger prophezeit, „wird der Pharao nicht mehr dich begehren, sondern eine Nebenfrau, die er als die Königin des Nils verherrlichen wird. Sorge dafür, dass du Pharao rechtzeitig in dein Bett lockst, solange zwischen euch noch die Leidenschaft brennt. Um unsere Dynastie zu erhalten, brauchen wir mindestens einen Sohn, in dessen Adern reines, königliches Blut fließt!“
Zudem stufte der Wesir die Königin Anchesenamun als gefährlich ein, gefährlich in Bezug auf ihr störrisches und eigensinniges Verhalten. Als ihre Mutter, ihre starke Hand, die sie stets im Zaum gehalten hatte, verstorben war, befand Anchesenamun sich inmitten der Pubertät. Sie war ohnehin ein schwieriges Kind gewesen. Täglich mussten die Zofen, und vor allem ihre Schwestern und Cousinen sowie Cousins, die Launen und Schikanen eines Mädchens ertragen, das eine Königin und somit unantastbar war. Nur in Gegenwart des kleinen Tutanchamuns fühlte sie sich wohl und geborgen, auch wenn klein Tut sie früher des Öfteren geärgert und ihr rasch aufbrausendes Gemüt leidenschaftlich gerne provoziert hatte. Täglich hatte sie ihn behütet und darauf geachtet, dass ihm nichts geschieht. Sie hatte sich zu ihm an den Teich gesetzt und ihn gelobt, wenn er mit seinen Segelschiffen Krieg spielte und lautstark verkündete, dass er die Söhne Seths besiegt hatte.
Anchesenamun steuerte jedenfalls einiges dazu bei, dass der junge Pharao dem Wesir schneller entglitt, als es ihm lieb war. Seine Macht, über das Land nach eigenem Ermessen zu regieren, drohte von Jahr zu Jahr zu schrumpfen. In absehbarer Zeit würde Pharao Tutanchamun alleine regieren und Eje dürfte wieder nur noch wie ein gewöhnlicher Wesir walten. Die bevorstehende Nilreise war Anchesenamuns Meinung nach das Klügste, was ihr Gemahl bisher beabsichtigt und befohlen hatte. Endlich würde das Volk sehen, dass es von einem wahren Königspaar geführt wird. Ejes straffe Fäden würden unweigerlich reißen und seine persönliche Monarchie hätte ein endgültiges Ende. Aber Eje war mit dem Beschluss des Pharaos ebenfalls sehr zufrieden, denn er erhoffte sich, dass Tutanchamun in dieser langen Zeit dieses Mädchen aus dem Volk vergessen und seine Liebe zu ihr verblassen würde.
Eje überkreuzte die Arme auf seiner Brust und nickte sachte, wünschte Pharao Tutanchamun eine angenehme Nachtruhe und verließ den Audienzsaal.
Es war spät geworden. Die Diener gingen wortlos umher und löschten jede zweite Fackel, die in Haltern an den Gemäuern haftete, bis es im Audienzsaal nur noch rötlich schimmerte und die Schatten an den Kalksteinwänden umhertanzten. Tutanchamun lümmelte entspannt auf dem Horusthron, nahm die Doppelkrone von seinem Kopf ab und massierte sich seine Stirn. Kopfschmerzen plagten ihn, aber was konnte er schon dagegen unternehmen? Seinen Leibarzt noch in dieser späten Stunde einfach herbei befehligen, wäre wohl eine Möglichkeit gewesen. Aber dieser würde sofort in Begleitung von einigen Assistenten erscheinen und letztendlich würde das ganze Königshaus wiedermal in Aufruhr geraten, weil man befürchtete, dass der Pharao von einer Krankheit heimgesucht wurde. Auf diesen Trubel hatte er zu dieser späten Abendstunde wahrlich keine Lust. Er überlegte. Vielleicht war die Amunpriesterin Satamun noch wach. Meistens war sie im Besitz von irgendwelchen Heilkräutern und würde ihm rasch ein Elixier mixen.
Die Verhandlungen am späten Nachmittag waren anstrengend gewesen und nun wurde ihm klar, dass das unbekümmerte Leben, welches er und Anchesenamun bisher genossen hatten, für immer vorbei sein würde, sobald er am nächsten Tag das Bootsdeck der königlichen Barke betritt und die Nilstädte besucht. Nichts würde mehr so sein, wie es einst war. Dann würden sie als Königspaar im ganzen Land vor dem Volk erscheinen und er könnte sich nie wieder als der Steinmetzlehrling Imhotep unter das Volk wagen, weil man ihn dann unweigerlich erkennen würde. Wenn er von dieser Reise wieder zurückkehrt, wäre er nur noch ausschließlich der Pharao Tutanchamun. Er seufzte und schwelgte in Erinnerungen.

Tutanchamun schloss seine Augen und ließ gedanklich seine Kindheit Revue passieren. Ihm fiel ein, wie er damals als achtjähriger Pharao im Palast ständig herumgeflitzt war und dabei manches Mal ungeschickt Götterstatuen umgeworfen hatte, die daraufhin auf dem Boden zerschellten. Ein normal sterblicher Bengel hätte sich ein derartiges Missgeschick niemals erlauben dürfen. Mindestens fünf Hiebe mit einem Schilfrohr auf den blanken Hintern wären die angemessene Strafe für ein Kind gewesen. Schmunzelnd erinnerte sich Tutanchamun, wie er einst heimlich in der Galerie von einer Säule zur nächsten geschlichen war und den ahnungslosen Zofen und Priestern aufgelauert hatte, um sie zu erschrecken. Die Zeit während der langweiligen Besprechungen im Audienzsaal, bei denen der Pharao trotz seines Kindesalter zwingend anwesend sein musste und er dabei immer unruhig auf dem Horusthron herumgezappelt hatte, hatte klein Tut damit überbrückt, dass er ein Schilfrohr mit Kichererbsen munitioniert und die Großen des Landes damit bespuckt hatte. Und wenn der Schatzmeister Maya völlig entrüstet aufgeblickt hatte, mit der Hand seinen Nacken reibend, war eine laute Kinderlache durch den Saal geschallt. So war es also, dass während wichtige politische Entscheidungen getroffen wurden, mancher Staatsmann ständig seinen Arm, Stirn, Wange oder gar sein Auge gerieben hatte.
Seine sechs Jahre ältere Halbschwester Anchesenamun dagegen, als sie noch jugendlich war, hatte auf jeden Anlass der ihr widerstrebte hochgradig zickig reagiert. Sie terrorisierte vorzugsweise gerne ihre Schwestern und anderweitigen Verwandten, indem sie einfach in ihre Gemächer gestürmt war, die Duftöle auf ihren Schlafstätten auskippte, massive Unordnung herstellte und gehässig die Nasen ihrer Büsten abgeschlagen hatte. Vor ihr musste man sich in Acht nehmen und es war ratsam, die eigene Perücke niemals gedankenlos herumliegen zu lassen. Ani, wie die Große königliche Gemahlin als Mädchen immer gerufen wurde, nutzte jede Gelegenheit zum Schikanieren aus und was sie äußerst gerne machte war, Perücken mit einem Dolch zu zerschnippeln. Meistens tat sie dies, wenn sie genau wusste, dass hoher Besuch erwartet wurde. Die Perücke galt in der gehobenen Gesellschaft als ein Schönheitsideal, weil oftmals das eigene Haar aufgrund einer Läuseplage abrasiert werden musste und eine kahlköpfige Prinzessin, der Eitelkeit wegen, niemals ohne diese Kopfbedeckung vor ranghohen Ehrenleuten erscheinen würde. Die geschädigten Mädchen verschwanden daraufhin in ihre Schlafgemächer, ließen sich nicht mehr blicken und die blutjunge Ani, die nichtsdestotrotz die Königin von Ägypten war, versteckt hinter Säulen, kicherte sich schadenfreudig ins Fäustchen.
Ani schreckte auch nicht vor Handgreiflichkeiten zurück und wann immer ihr unbändiger Jähzorn sie heimsuchte, ließ sie ihren Dampf ab und prügelte grundlos auf die Zofen und Sklaven ein, die daraufhin in einer Ecke kauerten, ihre Köpfe schützten und die königliche Attacke wehrlos über sich ergehen ließen.
Einmal ging klein Tut wiedermal in Anis Schlafgemach und spielte mit ihren Katzen. Die Vierzehnjährige lag bäuchlings auf dem Bett, stützte ihren Kopf auf ihre Hände ab und reckte dabei abwechselnd ihre Beine in die Höhe, während sie ihrem kleinen Gemahl beim Spielen beobachtete. Neben ihr lag eine Schüssel randvoll mit süßen Datteln, welche sie zuerst in einem Honignapf tunkte und dann genüsslich futterte. Plötzlich zog Ani ihr Gewand aus und rekelte sich im weichen Bettbezug. Sie war splitternackt, nur eine schulterlange Perücke überdeckte ihr kurzes Haar.
„Tut, komm sofort zu mir in mein Bett. Du machst mir jetzt auf der Stelle ein Kind und zwar einen Sohn, einen Thronfolger!“, fuhr sie den Achtjährigen herrisch an. Aber der kleine König Tutanchamun presste stattdessen seine Hand vor dem Mund und prustete.
„Hörst du nicht? Du sollst mich begehren!“, schrie sie ihn wütend an. Aber anstatt seiner älteren Halbschwester zu gehorchen, was er sonst eigentlich immer tat, zeigte klein Tut mit dem Finger auf Ani und lachte sie laut aus.
„AAAHAHAHAHA, deine Brüste werden immer größer. Bald sind sie so dick, wie die von Zofe Bürsa. AAAHAHAHAHA!“
Königin Ani tobte daraufhin wutschäumend, kreischte hysterisch, strampelte wild mit ihren Beinen und schleuderte ihm kurzerhand ihre Perücke entgegen, woraufhin er sich duckte und das Haarimitat gegen eine Vase klatschte, die auf einen Schrein stand und zu Boden schmetterte. Mit zornverzehrtem Gesicht hechtete Ani splitternackt aus dem Bett und bekam den Knirps am Bein zu packen, der augenblicklich wie ein Lausebengel aus ihrem Schlafgemach zu türmen versuchte. Der kleine Tutanchamun lag bäuchlings auf dem Boden und zappelte panisch, blickte mit großen Augen erschrocken über seine Schulter auf seine nackte Halbschwester, die ihn mit zornverzerrtem Gesicht am Bein festhielt und zu sich zerrte. Als Ani ihn endgültig zu fassen bekam, packte sie ihn an seinen Schultern und rüttelte ihn zähnefletschend, während sie zugleich flennte. Aber der kleine Tut versuchte nur krampfhaft, sein Lachen zu unterdrücken.
„Du … Du bist also in der Tat ein lebender Gott und wurdest von den Göttern dazu auserkoren, das schwarze Land zu regieren? Bei der Göttin Bastet, ich sage dir, wer du wirklich bist, mein geliebter Gemahl! Du bist nichts weiter als ein Kindskopf! Jawohl, ein alberner Kindskopf, der sich täglich freche Flausen ausdenkt. Lass dir das von mir gesagt sein! Deinetwegen wird unsere Dynastie noch aussterben, Großer Pharao Tut-anch-Amun!“, brüllte sie ihn heulend an und rüttelte ihn dabei.
Das Geschrei blieb selbstverständlich nicht unbeachtet und sogleich erschien die Zofe Bürsa, die bereits für die Königin Nofretete gedient hatte und nun, nachdem diese längst gestorben war, hauptsächlich für ihre bevorzugte Tochter sorgte. Bürsa war die einzige Person, die Ani zu besänftigen vermochte. Sie war die einzige Zofe, der einzige Mensch auf der Welt, dessen Worte das jähzornige Mädchen akzeptierte. Bürsa stützte ihre Hände auf ihre wohlbeleibten Hüften und blickte das blutjunge Königspaar streng an, während sie auf dem Boden rauften.
Was für eine Unordnung wieder einmal herrschte. Scherben, wohin man auch hinschaute, und die Kopfkissen lagen in allen Ecken verteilt herum. Honig war auf dem Bettbezug ausgelaufen und überall lagen Datteln auf dem Boden. Die Katzen hatten sich unter dem Bett verkrochen, ein junges Kätzchen hatte sich sogar aufgrund des Geschreies verängstigt in Pharaos Pschent-Krone versteckt. Aber Bürsas Bedenken waren, wie immer, unberechtigt gewesen. Ani hätte ihrem kleinen Bruder und Gemahl niemals etwas angetan. Der kleine Tutanchamun umklammerte schließlich seine Halbschwester, stellte sich auf seine Fußspitzen, schmatzte auf ihre Wange und entschuldigte sich, weil er sie ausgelacht hatte. Aber die prallen Brüste gingen dem Knirps nicht mehr aus dem Sinn, als er Bürsa erblickte. Klein Tut kniff seine Augen zusammen und versuchte, sich zu beherrschen – ihm rannen bereits Tränen der Belustigung über die Wangen. Er versuchte verzweifelt eine anbahnende Lachattacke zu unterdrücken, damit seine hitzköpfige Schwester bloß nicht erneut in Rage geriet.
„A-aber unsere Dynastie … Mutter sagte doch immer, wir brauchen einen Sohn, mein geliebter Gemahl“, schluchzte Ani, während sie ihren kleinen Bruder fest an sich drückte. Dann weinte sie bitterlich.
Es war herzzerreißend. Bürsa hatte die jugendliche Königin schließlich in ihre Arme genommen, sie mit einem Leinentuch umhüllt, zärtlich über ihren Kopf gestreichelt und sie getröstet. Der kleine Tutanchamun hockte derweil mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, gähnte ausgiebig und fragte: „Geehrte Bürsa, darf ich in meinen Park gehen und meine Tiere füttern? Mein Papagei hat jetzt bestimmt ganz viel Hunger. Aber ich will nur, wenn die Ani auch mitmacht“, sagte klein Tut.
Die Zofe Bürsa seufzte, als sie dem Kindkönig direkt in die Augen schaute, er unschuldig drein blickte und sich offensichtlich gelangweilt fühlte. Sie hielt die vierzehnjährige, bitterlich weinende Königin von Ägypten wie ein Kleinkind in ihren Armen und schunkelte sie.
„Aber selbstverständlich dürft Ihr das, mein Großer Pharao. Vielleicht mag ja die Große königliche Gemahlin gemeinsam mit Euch mitgehen, Euren Papagei und Eure Elefantenjungen zu füttern?“, meinte sie lächelnd.
Daraufhin löste sich Ani plötzlich aus ihre Umarmung, sah Bürsa strahlend an, wischte sich die Tränen freudig aus ihrem verheulten Gesicht und antwortete euphorisch: „Au ja! Na los, Tut, das machen wir jetzt! Danke geehrte Bürsa, das du es uns erlaubst. Wir beide haben dich so sehr lieb!“, sagte Ani und umklammerte die beleibte Zofe herzhaft.

Tutanchamun massierte sich mit seinen Fingern die Augen. Er erhob sich aus dem Horusthron und seufzte. Er war müde geworden und seine Kopfschmerzen zermürbten ihn allmählich. Morgen würde er auf dem Nil durch das Land reisen und sein Volk begrüßen. Er würde seine Bauwerke begutachten, die er bislang nur von Baumeistern auf Papyrusrollen gezeichnet präsentiert bekommen hatte und beschloss, gemeinsam mit dem Volk in den Tempelanlagen Opferbeigaben zu spenden. Und wenn er wieder in seine Residenz zurückkehren wird, wäre es sowieso nicht mehr notwendig, in die Theaterrolle des Imhotep zu schlüpfen, nur um seine Freunde wiederzusehen. Er beabsichtigte ohnehin Rechmire und Petu als seine treu ergebenen Leibwächter einzustellen, die dieses Amt bestimmt wohlwollend annehmen würden. Unermesslicher Reichtum würde seine Freunde erwarten und sie müssten nie wieder im Nil fischen. Er lächelte. Besonders Petu würde sich sicherlich an seinem Harem erfreuen, welchen er ihm vermachen würde. Anchesenamun behielt Recht. Einen Harem benötigte er wahrlich nicht mehr, wenn Nefertiri zur Königin des Nils gekrönt werden würde.
 

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