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Der grüne Geha Füller

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© Thomas Schwarz   
   
Der grüne Geha Füller


Ich fing ganz oben an mit meinem letzten Kontrollgang, auf dem Dachboden.
Tante Margot und Onkel Hans ließen, als sie das Haus in den 50ern kauften, dort oben Schränke einsetzen. Links und rechts unter dem Schrägdach reihten sich Türe an Türe, zehn zur Linken, zehn zur Rechten, dazwischen ein schmaler Gang. Josef und Ich verbrachten bei schlechtem Wetter ganze Nachmittage dort oben, spielten Verstecken oder suchten nach Schätzen. Josef war Tante Margots Sohn, mein Cousin; ich lebte bei ihnen, seit Mutter sich entschloss in Regina/Saskatchewan, Kanada, bei Daniel, ihrem neuen Mann zu bleiben und ihn zu heiraten. Damals war ich elf oder zwölf Jahre alt. Ihre Firma schickte sie ursprünglich für ein halbes Jahr rüber, woraus dann zwei Jahre wurden und irgendwo dazwischen tauchte Daniel auf. Nein, kein Hass, keine Bitterkeit meinerseits, das liegt alles so lang zurück und außerdem bekam ich eine Art Bruder als ich endgültig bei Tante Margot und Onkel Hans einzog. Josef und ich verstanden uns seit Kindergartenzeiten und schon davor. Wir wohnten Haus an Haus, ich aß damals schon drei, vier mal in der Woche bei ihnen, übernachtete auch oft auf dem riesigen, alten weinroten Sofa im Wohnzimmer. Als Mutter dann für längere Zeit fort ging, bekam ich den Raum, der zuvor als Wäsche – und Nähzimmer benutzt wurde. Später, gegen Ende meiner Realschulzeit kam ein Brief von ihr mit der Frage ob ich nicht zu ihnen kommen wolle und ich lehnte ab. Was sollte ich da drüben in einem fremden Land? Mein Lebensmittelpunkt lag hier. Bei Tante Margot im Betrieb bekam ich eine Ausbildungsstelle zum Einzelhandelskaufmann. Wenn ich zurück blicke, flogen die drei Jahre regelrecht dahin. Allerdings fühlte es sich während dieser Zeit oft an, als wäre ich für alle Ewigkeiten Gefangener der Lebensmittelabteilung bei K.
Onkel Hans bestand darauf, dass ich was anständiges lernte, so richtig mit Abschlusszeugnis. Damals gab es das Ausbildungsfach „Musikalienhändler“ noch nicht. Zwei Jahre nachdem ich vor der Handwerkskammer meinen Abschluss gemacht hatte, wurde dieser Zweig als Ausbildungsfach anerkannt. Da jobbte ich aber schon im größten Schallplattenladen in B. Was Musik angeht war ich verrückt, regelrecht abhängig. Onkel Hans und Tante Margot schenkten mir zur Konfirmation einen Schallplattenspieler; von Mutter kam fast zeitgleich ein großes, quadratisches Paket mit fünf Schallplatten. „Rush – All the world ´s a stage“, „Deep Purple – Made in Japan“, „Richie Blackmore´s Rainbow“ „Glen Campell – Rhinestone Cowboy“ und „Sweet – Sweet Fanny Adams.“ Die Glen Campell LP war Mutters und Daniels Beitrag mit der Bitte, Tante und Onkel nicht zu ärgern mit meiner „Schreihalsmusik“ und ihnen auch mal was schönes vor zu spielen.
In meiner Zeit kam man, wenn man im Schallplatten – und CD Verkauf arbeitete, an so manche Aufnahme heran, erhielt vom Geschäft Personalrabatt und – das drang glücklicherweise nie nach außen, - wir durften uns Schallplatten ausleihen, sie zu Hause anhören und , natürlich unbeschädigt , wieder zurück bringen. Musikalisch war ich auf keine bestimmte Richtung festgelegt – in der Schule kassierte ich schon die eine oder andere Kopfnuss weil ich mich nicht ausschließlich zum Lager der „Sweet“ Fans bekannte sondern auch über die „Bay City Rollers“ Bescheid wusste; damals ein Frevel gegenüber beiden Fangemeinden.
10CC mochte ich genauso gerne hören wie zu Motörhead headbangen, Pet Shop Boys, the Church und Pat Metheny vertrugen sich mit Neil Diamond und Steve Morse. The Clash, Siouxi and the Banshees und Sex Pistols standen friedlich neben Vivaldis Gitarrenkonzerten, Telemanns Tafelmusik und Wagners Ouvertüren.
Tante Margot machte im Dachgeschoss einen Schrank frei für meine immer größer werdende Plattensammlung.

Eine Idee nahm Gestalt an. Ich wollte einen eigenen Laden mit Schallplatten und den neu aufkommenden CDs besitzen, dazu auch Bücher und Musikmagazine anbieten, teils gebraucht, teils neu. Josef, der zwischenzeitlich bei einer Immobilienfirma arbeitete, hatte entsprechende Verbindungen und tatsächlich bekam ich den Zuschlag für ein Geschäft das etwa 250 qm groß war, die Miete war erschwinglich, es war nicht gerade im Ortszentrum, dafür lag das Gymnasium gerade mal fünf Gehminuten entfernt. Mein erster Laden befand sich direkt am Weg den die Schüler in Richtung Innenstadt nahmen. Durch Beziehungen kam ich an den dringend benötigten Kredit, Mutter schickte ebenfalls etwas. Das Abenteuer des ersten eigenen Ladens nahm Gestalt an und es lief nach den ersten beiden Jahren so gut, dass ich erst mal keine schlaflosen Nächte mehr am Küchentisch verbringen musste und Kalkulationen durchackerte.

Onkel Hans folgte Tante Margot etwa fünf Jahre nach ihrem Tod nach. Josef wurde das Haus überschrieben, ich erhielt Wohnrecht und nutzte die Schränke oben als Lager. „Günnies Shop“ wuchs in unserem Städtchen mit den Jahren zu einer echten Institution. Ich beließ es nicht beim bloßen An- und Verkauf sondern bot auch Versandhandel an als das Internetzeitalter anbrach. Sechs Jahre nach Eröffnung des ersten Ladens, wagte ich im Nachbarort mit „Günnies Zweitwohnsitz“ die Fortsetzung. Beide Läden liefen, trotz Saturn, Fnac, trotz der Mediamärkte in den Großstädten um uns herum. Unsere Kunden wussten, dass sie fragen konnten und Antwort bekamen. Oft kamen Leute mit einem Musikstück, und baten mich, Sabrina oder Johann, die ich aus unserer Diskothekenzeit kannte und die zeitweise aushalfen , doch mal kurz rein zu hören und hier machte sich unsere „Sucht“ bezahlt. Was der eine nicht erkannte, wussten die anderen oder wir forschten so lange nach bis die Kunden ihre Infos hatten und das gesuchte Musikstück bekamen Entweder wir hatten es vorrätig oder bestellten und lieferten es noch persönlich an der Haustüre ab, sobald die Ware kam.

Josef ließ mir das Haus zu einem Spottpreis. Zugegeben, es war alt und wirklich renovierungsbedürftig, vielleicht war das ja der wahre Grund. Mir war´s ganz recht, hatte ich doch eh nicht vor, die Gegend zu verlassen, im Gegensatz zu ihm, der sich jetzt seinen Wunsch erfüllte und mit Andrea, seiner Frau nach Aversa bei Neapel zog, von wo ihre Familie her stammte.


Kontrollgänge sind mir nicht fremd. Es war ein tägliches Ritual, durch die Fächer zu blättern und Schallplatten und CDs wieder richtig einsortieren, nachzuschauen ob was fehlte. Damals war ich manchmal davon genervt.
Während meines letzten Gangs durch mein Haus, erschien das alles in wehmütiger Verklärung.
Die Zeit geht an niemandem spurlos vorüber. „Günnies Zweitwohnsitz“ war nicht zu halten. Der Traum, zwischen unserem Kaff und B. wenigstens fünf „Günnifilialen“ zu platzieren, wurde unter anderem durch´ s Internet mit seinen Downloadplattformen und Portalen zerstört und niemand brauchte meine Infos, keiner war auf der Suche nach einem bestimmten Musikstück, man konnte jetzt selbständig im Netz suchen und finden.

Das Wohnzimmer mit dem Ecktisch auf dem der klobige Fernseher stand, gegenüber das gemütliche, weinrote 4er Sofa, geeignet um darin zu versinken, das Esszimmer mit dem ausziehbaren, schweren Eichentisch, den vier Stühlen mit aus Weide geflochtenen Rückenlehnen und Josefs Zimmer wirkten noch immer als wäre die Zeit stehen geblieben, als habe sich nichts verändert. Gleich käme Tante Margot, um mich entweder zu Mutter nach Hause zu schicken oder mch aufzufordern, ihr beim Tischdecken zu helfen weil ich wieder bei ihnen Abendbrot essen würde. Doch Tante Margot, Onkel Hans und Mutter waren nicht mehr da und Josef wohnte 2000 km weiter südlich.
Der Käufer bot an, alles, die gesamte Einrichtung, Möbel, Bilder, Gegenstände, Werkzeuge, sogar das Geschirr in der Küche zu kaufen, unter der Bedingung, ich solle innerhalb eines Monats ausziehen.
Mit dem Geld wurden die Gläubiger, der Entrümpelungsdienst, der die Ständer und Regale in „Günnies Shop“ abmontierte und mitnahm, bezahlt. Wochenlang kämpfte ich innerlich, was mit der verbliebenen Ware geschehen solle. Die Schallplatten wollte niemand mehr haben und was die CDs betraf; sogenannte Sammler machten klar, dass sie dafür höchstens Gnadenpreise zahlen konnten.

Im Untergeschoss des Hauses, neben dem Heizkeller, gab es einen Raum den ich fast übersehen hatte. Dort fand ich meinen alten Schreibtisch mit der giftgrünen Schreibplatte und den blau lackierten Beinen stehen. Sogar die orangefarbene Klemmleuchte war noch dran montiert. Schmunzelnd setzte ich mich auf den Stuhl davor. Ja, der Schreibtisch war jetzt definitiv zu klein oder ich zu groß. Als ich die mittlere Schublade öffnete, rollte mir ein alter Schulfüller entgegen. Es war der grüne Geha Füller aus meiner Schulzeit. Zum Beginn des zweiten Schuljahres ging Mutter mit mir zum Schreibwarenladen im Dorf und ich durfte mir dort meinen ersten Schulfüller aussuchen. Fast die Hälfte unserer Klasse besaß damals diesen grünen oder aber die rote Variante.

Im Koffer der mit Klamotten und Dokumenten vollgestopft war, fand auch der Geha Füller Platz.
Aus einem Haus in eine kleine 30qm Ein Zimmer Wohnung zu ziehen, verlangt unter anderem das Loslassen des größten Teils der Vergangenheit und es fiel mir erstaunlich leicht all das hinter mir zu lassen, damit abzuschließen, bereit sein für neues, was immer mich „da vorne“ erwartete.

Das ganze liegt etwa fünf Jahre zurück. Den grünen Geha Füller habe ich noch immer. Er liegt auf meinem Tisch und ich nehme ihn jeden Tag in die Hand. Wenn ich nur mit ihm schreiben könnte, was gäbe ich dafür. Ich erinnere mich noch gut, wie weich seine Feder über´s Papier ging, er hinterließ eine sehr schöne Schrift. Doch es gibt keine passenden Tintenpatronen mehr für ihn. Ich versuchte es mit verschiedenen Patronen; außer Geschmiere und Kleckserei kam nichts brauchbares mehr heraus. So liegt er jetzt da, vor mir, unbrauchbar, nutzlos. Aber ich will ihn nicht wegwerfen, ich will mich einfach nicht von diesem Füller trennen, auch wenn keine Tinte mehr durch ihn durch fließt, auch wenn es für ihn keine passenden Patronen mehr gibt, wie mir die Verkäuferin bei „Müller“ achselzuckend sagte. Es gibt andere Füller, moderne, sogar mit ergonomischem Griff und die kosten wirklich nicht die Welt.
Nein, ich werfe ihn nicht weg. Er ist nicht kaputt. Er würde wunderschön schreiben wenn es Tintenpatronen für ihn gäbe.

Ende
 

http://www.webstories.cc 18.04.2024 - 11:39:53