... für Leser und Schreiber.  

Gestrandet

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© RenĂ© Oberholzer   
   
"Bitte melde dich doch, noch 2 Tage, dann ist Weihnachten, ich kann dich einfach nicht vergessen", stand bei meiner Mutter auf dem Handy-Display. Es war nicht die erste Nachricht, die sie von diesem unbekannten Mann zu lesen bekam. Bereits seit Oktober waren bei ihr regelmässig Wortnachrichten hereingekommen, die sie mit einer Mischung aus Neugier, Verwunderung und Ratlosigkeit las, sie aber nicht zuordnen konnte, und nicht wusste, was sie mit ihnen machen sollte. Da schien offenbar jemand ihre Handynummer bekommen zu haben. Alles musste während eines Griechenland-Urlaubs seinen Anfang genommen haben, ein Flirt an einer Strand-Bar, an der sich zwei näher gekommen waren, sich ausgetauscht hatten, bis Verliebtheit ins Spiel gekommen war. Offenbar musste sie ihm am letzten Tag vor der Rückreise eine Handynummer gegeben haben, die nicht ihre, sondern ausgerechnet die Handynummer meiner Mutter war. "Warum meldest du dich nicht, ich möchte dich zwar nicht belagern, aber ich leide, weil du dich nicht meldest und mir nicht antwortest. Hast du die schönen Tage und Abende auf Mykonos schon vergessen?" Solche Sätze gingen an meiner Mutter auch nicht spurlos vorbei, sie verspürte zunehmend Mitleid mit dem armen Mann, der seiner Urlaubsbekanntschaft in einer Nachricht versprochen hatte, ein Theaterstück über sie zu schreiben. Als meine Mutter den Namen des Mannes herausgefunden hatte, versuchte sie abzuwägen, ob sich ein Theaterstück lohnen würde, dann müsste sie ihn noch ein wenig zappeln und leiden lassen und zu all diesen Nachrichten schweigen, oder ob sich ein Theaterstück aufgrund der Art der Kurznachrichten nicht lohnen würde, dann könnte sie den bedauernswerten Autor allenfalls auch aufklären und ihn von seinem Leiden befreien. Oder hatte die Ferienbekanntschaft ihm allenfalls überhaupt nicht bewusst eine falsche Nummer angegeben, sondern hatte er die Nummer einfach nur falsch abgeschrieben oder eine andere Nummer gehört und sie falsch abgespeichert? Vielleicht machte sich seine Bekanntschaft aber mittlerweile auch Gedanken, warum sich der Mann, der ihr das Blaue vom Himmel herab erzählt hatte, sich nicht gemeldet hatte, nachdem sie nach Hause zurückgekehrt war. Sie hatte von ihm keine Handynummer, sie hatte ihm nur ihre gegeben, und vielleicht hatte er, als er zu Hause angekommen war, sie aus dem Bewusstsein verdrängt, vielleicht war sie nur ein billiger Flirt für ihn gewesen, vielleicht hatte er Frau und erwachsene Kinder zu Hause und seine Version, dass er lediger Junggeselle sei und sich nach einer Partnerschaft sehnen würde, stimmte überhaupt nicht. Meine Mutter war lange hin- und hergerissen gewesen, wie sie sich verhalten sollte. An Weihnachten fasste sie sich ein Herz, löschte alle Nachrichten, blockierte die Nummer und überliess den nicht mehr ganz unbekannten Mann und seine Ferienbekanntschaft ihrem Schicksal.

Jahre später sass ich im Theater. Es lief das Theaterstück "Gestrandet - Ein Drama in 5 Akten". Der Inhalt kam mir irgendwie bekannt vor. Ich erinnerte mich an meine Mutter und an die Geschichte, die sie mir vor Jahren erzählt hatte. Der Protagonist des Theaterstücks nahm sich am Schluss des Stücks das Leben. Die neue Frau an meiner Seite, die ich vor kurzem kennengelernt hatte, schien vom Stück sehr betroffen zu sein und schwieg. Als ich sie fragte, was sie so berührt hätte, sagte sie nur: "So sieht offenbar die wahre Liebe aus." Ich horchte auf, noch mehr horchte ich auf, als sie sagte: "Lass uns nächstes Jahr den Urlaub auf Mykonos verbringen."
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 16:47:36