... für Leser und Schreiber.  

Jeden Abend

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© Miranda Rathmann   
   
Jeden Abend stehe ich am Fenster und schaue hinauf in die schwarzen unendlichen Gefilde des Himmels. Jeden Abend suche ich, suche nach einer kleinen weißen Gestalt, die mir im Traum erschien. Diese Gestalt bist Du – Selina!

Es ist schon lange her und doch kann ich manchmal noch die Freude spüren, als ich erfuhr, dass es Dich gibt. Ich malte mir aus, wie es sein wird, Dich in den Armen zu halten, Dich zu leiten und zu führen, bis Du alt genug wärst dies allein zu tun.
Ich sah mich mit Dir über Wiesen tollen und flocht Dir Kränze aus Butterblumen. Kleine „Wehwehchen“ pustete ich hinweg, und wir sangen und lachten. Mit großen staunenden Augen betrachtetest Du die Welt und stelltest tausende Fragen. Du lerntest sehen und begreifen.
Du liebtest es, auf dem Rücken im Gras, in den Wolken nach Bildern zu suchen. Ich lag dann neben Dir, und Du erzähltest mir von Riesen, die mit dem Wind um die Wette pusten.
Ich erzählte Dir Märchen und wiegte Dich abends in den Schlaf. Manchmal bist Du nachts aufgewacht und hast geweint. Dann war ich für Dich da und nahm Dich tröstend in die Arme.
Dies alles sah ich schon so deutlich vor mir, als wäre es bereits reale Wirklichkeit. Da gab ich Dir Deinen Namen. Von nun an warst Du SELINA.

Zärtlich streichelte ich über meinen schon rundlichen Bauch. Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde Deine ersten Bewegungen spüren. Ich freute mich darauf.

Wie naiv ich doch war. Die Welt war rosarot und ich voller Glück. Jeder der mir zuhörte, erfuhr von Dir, meinem eigenen kleinen Wunder.
Es gibt sieben Weltwunder auf dieser großen, weiten Welt, aber das größte, das es je gab oder geben wird, ist die Geburt eines Kindes. Es gibt nichts Vergleichbares.

Ich unterhielt mich mit Dir. Abends wenn ich im Bett lag, tagsüber wenn ich wusch oder die Wohnung aufräumte oder in der Wanne saß, und immer wieder streichelte ich liebevoll meinen Bauch.
Ich erzählte Dir von der Zeit, als ich noch klein war, von meinen Ängsten und Sorgen, von den kleinen Dingen die mich glücklich machten.
Ich erzählte Dir, wie ich heranwuchs und wie ich Deinen Vater kennen lernte, erzählte Dir von meiner Liebe zu ihm und meiner Liebe zu Dir und wie es sein würde, wenn Du das Licht der Welt erblickst.
Ich versäumte keinen Termin beim Arzt, rauchte nicht, trank nicht und ernährte mich gesund.
Ich begann Dein Zimmer zu planen. Ich wusste genau, wie es aussehen würde. Anfangs würdest Du natürlich in einer tollen Wiege bei uns im Schlafzimmer schlafen, gleich neben meinem Bett. Ich wäre dann immer da, wenn Du mich brauchst. Du müsstest keine Angst haben.

Doch dann gingst Du – und ich blieb allein.

Wenn ein Baby stirbt, ob schon geboren oder nicht, wird seine Seele zu einem Engel, der irgendwo dort oben in der Weite des unendlichen Himmels auf seine neue Chance wartet.
Und so stehe ich Abend für Abend am Fenster, halte Ausschau nach Dir und hoffe, dass meine Träume und Sehnsüchte nicht unerfüllt bleiben und ich Dich irgendwann in den Armen halten kann, Dich meine geliebte SELINA!

© Miranda Rathmann / Berlin, 01.03.2001
 

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