... für Leser und Schreiber.  

Waldkrieg

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© Andreas Wenck   
   
Der Tag war überraschender Weise weniger grauenhaft als die anderen vor ihm. Als er das Büro verließ, drehte er sich nicht mehr um, wozu auch? An seinem Spinnt holte Marco Kurz nocheinmal seine Walther PPK aus dem Halfter, um sie sanft zu streicheln, so wie er es schon am Morgen getan hatte. Sie gab ihm dieses fremde Gefühl von Gelassenheit, welches er so lange gesucht hatte. Beim Rausgehen verabschiedete er sich lächelnd, aber distanziert von seinen Kollegen, welche gerade einen jungen Afrikaner ins Vernehmungszimmer brachten. Wieder eine dieser sinnlosen Konversationen: Ich nix verstehn, du nix verstehn, was du wollen von mir, warum du das machen...
Doch das was ihn sonst erzürnte, sah er nun als Ganzes. Ist doch klar, wir haben immer mehr, die immer weniger, also holen sie es sich, egal wie. Was war moralisch schlimmer? Deren Neid auf unseren Reichtum, oder unsere Gier nach dem letzten Tropfen, den dieser Planet hergibt? Er verließ das Präsidium, auf dem Weg zu seinem Auto sah er eine Taube, deren Füße verkrüppelt waren.
Wohl von diesen Nägeln, die überall steckten um Tauben zu verjagen. Seltsam, Tiere würden sich nie selbst umbringen.
Marco Kurz hatte schon lange abgeschlossen. Es war eine Endscheidung, die sich über ein Jahr hinzog, aber innerhalb weniger Tage durchorganisiert wurde. Alles war festgefahren, ohne Ausweg, der Job mit seiner täglichen Frustration, die Beziehung zu seiner Ex und die quälenden Versuche den Kontakt zu seinen Kindern herzustellen. 46 Jahre waren genug.
Seine Walther PPK hatte er nie real benutzt, bis auf ein paar Schießübungen; in seiner Fantasiewelt jedoch hatte er aufgeräumt, mit Allen und Jedem, der sich ihm in den Weg stellte.
Am Abend ging er noch einmal den nächsten Morgen in Gedanken durch, alles war vorbereitet und merkwürdiger Weise schlief er einen sanften und friedlichen Schlaf.
An einem Dienstag morgen kurz vor Sonnenaufgang brach er auf.
Während ihm die ersten schlecht gelaunten Montags Früharbeiter entgegenkamen ging er auf seine persönliche Mission.
Eine Flasche Rothschild, den ihn seine Freundin damals vor Jahren zu seinem 33. Geburtstag geschenkt hatte, eine Packung dieser Öko-Zigaretten ohne Geschmacksstoffe, zu den Trüffeln eine Foccacia mit Kräutern und Olivenöl. Einen Kassettenrekorder mit „Neue Welt“ von Dvorak.
Sein Auto stellte er ab, ohne es abzuschließen, er ließ die Schlüssel stecken und bewegte sich in der Morgendämmerung langsam und sicher in den Wald. Sein Weg führte ihn auf eine Anhöhe, um die herum ein weitläufiges Wald und Wiesengebiet lag, vor ihm eine etwa 200 mal 100m große Wiese.
Nachdem er den Kassettenrekorder mit „Neue Welt“ eingeschaltet hatte, zündete er sich eine Zigarette an. Langsam ging die Sonne auf, direkt vor ihm drängte sie aus dem Dunkeln hervor. Ihre ersten zarten Strahlen wärmten ihn sofort.
Nun erst realisierte er die so klare und doch von so vielen Nuancen verzierte Waldluft; Gräser, Kräuter, Holz und ein leichter Wildgeruch. Er beendete seine Zigarette, um diesen Geruch zu inhalieren und genießen. Als die Sonne über den Horizont wanderte, begann das Konzert der Vögel über, hinter und vor ihm. Es weckte Erinnerungen in ihm, er schaltete die Musik aus, um sich dem Konzert hinzugeben.
Nachdem er einige Zeit so dasaß, hatte der Geruch der Trüffel ein paar Wildschweine aus dem Unterholz geholt. Er beschloß sie ihnen mit der Focaccia vor die Füße zu schmeißen.
Das Schmatzen und Grunzen der Schweine bereitete ihm mehr Genuß, als es die Speisen getan hätten.
Als die Schweine verschwunden waren, kam auf der Lichtung ein Reh zum Vorschein. Der Wind gleitete Marco Kurz sanft entgegen, so daß das Reh seine Witterung nicht aufnahm. Inmitten der reinigenden Luft, umgeben von diesem Vogelkonzert und angeleuchtet von der Morgensonne, schien das Reh wie eine Fatamorgana zu schweben.
Als mit einem Male ein Schuß ertönte, brach das Reh nach ein paar Metern zusammen. Aus dem Wald etwa 150m vor ihm kamen zwei dicke mit grünen Anzügen bekleidete Jäger zum Vorschein. Der ohne Gewehr öffnete seine Schnapsflasche und beide tranken davon.
Sie lachten laut und vulgär.
Marco Kurz bewegte sich rückwärts in den Wald, um nach einigen Minuten in ihrem Rücken dort wieder herauszukommen. Sie standen etwa vier Meter vor dem am Boden liegenden Reh, diese antiquen Waldhüter. Er hatte seine Waffe bereits geladen und entsichert, so daß er nur noch zweimal abzudrücken brauchte.
Es hallte klar und deutlich.
Er ging an den Beiden vorbei, die mit Kopfschüssen am Boden lagen und kniete vor dem Reh nieder. Die Kugel hatte es nicht getötet, sondern steckte in der Schulter. Er nahm einem der Jäger ein Messer ab und entfernte die Kugel damit aus der Schulter. Wer weiß, ob es überleben würde?
Noch ein Blick zu den beiden Toten, sie hatten seine persönliche Harmonie gestört. Sowas kommt von Sowas.
Jetzt erst wurde ihm klar, so klar wie die Waldluft am Morgen, was wichtig war und was nicht.
Er fuhr wieder zurück, in die für ihn jetzt neue Welt.
 

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